Bundesgericht
Raserfälle: Grösserer Beurteilungsspielraum für Richter (6B_165/2015)
Mit einem aktuellen Urteil (6B_165/2015 vom 1. Juni 2016), das für die Amtliche Sammlung vorgesehen ist, hat das Bundesgericht seine Praxis zu dem seit 2013 geltenden "Rasertatbestand" (Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG) geändert. Neu erfüllt nicht jede Überschreitung des Tempolimits um das in der fraglichen Bestimmung festgelegte Mass zwingend diesen Straftatbestand. Zwar ist auch künftig grundsätzlich davon auszugehen, dass der Fahrzeuglenker beim Tempoexzess vorsätzlich gehandelt hat. Der Richter muss jedoch – entgegen einem früheren Urteil des Bundesgerichts – über einen beschränkten Beurteilungsspielraum verfügen, um beim Vorliegen spezieller Umstände vorsätzliches Handeln verneinen zu können.
Gemäss der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (1C_397/2014 vom 20. November 2014) ist bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne des "Rasertatbestandes" zwingend davon auszugehen, dass der Fahrzeuglenker vorsätzlich gehandelt hat und der Tatbestand damit erfüllt ist. Dieses Verständnis der Norm, wonach kraft unwiderlegbarer gesetzlicher Vermutung in jedem Fall eine vorsätzliche Tatbegehung vorliegt, geben die höchsten Richter aufgrund einer umfassenden Auslegung der fraglichen Bestimmung ausdrücklich auf.
Zwar wird das Bundesgericht auch weiterhin grundsätzlich annehmen, dass der Fahrzeuglenker bei einer Überschreitung der Geschwindigkeit um das im "Rasertatbestand" festgelegte Mass vorsätzlich gehandelt hat. Es will jedoch nicht ausschliessen, dass es Fälle gibt, in denen zwar eine Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss dem "Rasertatbestand" vorliegt, diese aber vom Fahrzeuglenker nicht mit Vorsatz begangen wurde und damit kein Raser-Delikt vorliegt. Der Richter muss deshalb über einen beschränkten Beurteilungsspielraum verfügen, um bei speziellen Umständen ein vorsätzliches Handeln des Täters zu verneinen.
Eine Medienmitteilung des Bundesgerichts äussert sich detailiert zu den rechtlichen Grundlagen nach dem Strassensicherheitsprogramm "Via sicura" und der hierzu ergangenen Praxisänderung in der Rechtsprechung.
Rechtsüberholen: Passives Überholen erlaubt (6B_374/2015)
In einem weiteren Entscheid (6B_374/2015 vom 3. März 2016) hält das Bundesgericht fest, dass es in Zukunft erlaubt ist, bei erhöhtem Verkehrsaufkommen auf der rechten Autobahnspur die links fahrenden Autos durch blosses Vorbeirollen zu überholen.
Fährt ein Lenker auf der rechten Autobahnspur mit annähernd gleicher Geschwindigkeit wie die in Kolonnen fahrenden Autos auf der ersten und zweiten Überholspur, wird er neu nicht bestraft, wenn diese ihr Tempo verringern und er an ihnen einfach vorbeirollt. Ein solches "passives Überholen" im Kolonnenverkehr, d.h. zwar unter Beibehalten der gefahrenen Geschwindigkeit, doch ohne Beschleunigung, ist nach der geänderten Rechtsprechung nicht mehr unzulässig. Es stellt keine grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) dar; weder der objektive noch der subjektive Tatbestand ist erfüllt.
Zur Begründung trägt das Bundesgericht vor, dass das passive Rechtsvorbeifahren bei starkem Verkehr mittlerweile eine alltägliche Situation darstelle, die sich ohne dauerndes Abbremsen kaum vermeiden liesse. Kolonnenverkehr liegt demnach vor, wenn es zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, mithin die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind.
Nach der neuen höchstrichterlichen Praxis darf der Lenker somit auch dann auf der Normalspur bei "gleichbleibender Geschwindigkeit" weiterfahren, wenn sich die Autos auf der Überholspur verlangsamen. Demgegenüber bleibt es grundsätzlich weiterhin verboten, rechts zu überholen und daraufhin wieder auf die linke Spur einzubiegen.
Ein pointierter Kommentar zum Urteil findet sich auf dem Blog "www.strafprozess.ch" von RA Konrad Jeker.