Station 9
Kulturkampf
Auch nach dem Sonderbundskrieg vom 3. bis 29. November 1847 zwischen den katholisch-konservativen und liberalen Kantonen ging der Widerstreit zwischen Tradition und Moderne auf kultureller Ebene weiter.
Er führte dazu, dass sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die Gesellschaft, die Wirtschaft und das Schul- und Bildungswesen je nach Kantonszugehörigkeit unterschiedlich entwickelten. Aber auch die Kirchenpolitik wurde zum Kampfplatz zwischen der Katholischen Kirche und dem Staat. In diese Auseinandersetzungen geriet auch die staatliche Höhere Lehranstalt in Luzern.
Näheres dazu erfahren Sie im Audiobeitrag oder im vollständigen Text "Kulturkampf".
Nach dem Sonderbundskrieg von 1847 war der Kanton Luzern gesellschaftlich tief zwischen Liberalen und Katholisch-Konservativen zerrissen. Im Widerstreit standen ganz unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe: der eine säkular und der Moderne zugetan, der andere katholisch-konservativ und an der Tradition ausgerichtet. Die Polarisierung zog die Höhere Lehranstalt direkt in Mitleidenschaft; denn die Berufung der Jesuiten hatte nach 1844 den Konflikt äusserlich eskalieren lassen. Bis 1871 blieb der Kanton liberal regiert, was zur Folge hatte, dass mehrere Professorenstellen nun mit liberalen Geistlichen besetzt wurden.
Politisch verharrten die unterlegenen, auf der Landschaft nach wie vor starken Konservativen in einer misstrauischen Oppositionshaltung. Diese Haltung behinderte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, weil die Exponenten die Identität in der Hinwendung zu einem traditionell ländlich bestimmten Leben suchten. Gehemmt war dadurch auch der Aufbau eines entsprechend dem Bedürfnis der Zeit auf Industrie und Technik ausgerichteten Schulwesens; Bildung galt in Luzern nicht als zentral wichtige Ressource. Während Zürich, Lausanne und Bern ihre traditionsreichen Höheren Schulen seit den 1830er-Jahren zu Universitäten weiterentwickelten, verharrte Luzern im Bildungswesen beim Status quo. Die Widerstände gegen die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und die zurückgebliebene Qualität der Lehrerbildung verzögerten die Überwindung des Analphabetismus hier beträchtlich. Hinsichtlich höherer Bildung und Wissenschaft tat sich bald ein Graben auf; denn alle Schweizer Universitäten befanden sich bis 1889 in liberal und traditionell reformiert geprägten Städten. Wie in anderen Ländern wurden die Unterschiede bald augenfällig, so dass in der Zeit von einer eigentlichen "katholischen Inferiorität", sprich einem Bildungsdefizit, die Rede war.
In der zweiten Jahrhunderthälfte liessen die weltanschaulichen Gegensätze zahlreiche Konflikte entstehen. Während die Liberalen für eine säkulare Gesellschaft eintraten, sahen Konservative sich als Garanten einer gegenaufgeklärt-katholischen Ordnung. Wie bereits in den dreissiger Jahren wurde damit wiederum die Kirchenpolitik zum Kampfplatz. Die programmatisch anti-liberale Haltung des Papstes, weiter Teile der Geistlichkeit und des Kirchenvolkes liessen Kulturkämpfe ausbrechen: Der Staat beschränkte nach Kräften den klerikalen Einfluss, und die katholisch Konservativen organisierten sich als Oppositionsblock. Das erste Vatikanische Konzil mit der päpstlichen Unfehlbarkeitserklärung von 1870 führte zu einer Spaltung: Der liberale Flügel konstituierte sich als eigenständige Kirche. Einer ihrer wichtigsten Exponenten und später ihr erster Schweizer Bischof war der aus Schongau stammende Eduard Herzog, der in Luzern als Professor für Bibel und Kirchenrecht wirkte. Zwei weitere Professoren standen persönlich gegen die Konzilsbeschlüsse, unterwarfen sich aber entgegen ihrer Überzeugung. Die Vorgänge bildeten den Auftakt zu einer Neuorientierung: Innerhalb weniger Jahre war der Lehrkörper der theologischen Lehranstalt streng konservativ ausgerichtet. Der Bischof veranlasste die angehenden Theologen, aus der bestehenden Studenten-Verbindung "Semper Fidelis" auszutreten; sie mussten sich neu organisieren und schlossen sich in der "Waldstättia" zusammen.
Kurz vor dem offenen Ausbruch des Kulturkampfs hatte in Solothurn die Regierung das bischöfliche Priesterseminar geschlossen. Als auch der Bischof selbst polizeilich ausgeschafft wurde und im Kanton Luzern Zuflucht suchte, konnte er sich wirkungsvoll als Opfer staatlicher Verfolgung darstellen. Dies bewirkte eine breite Solidarisierung auch ausserhalb der Schweiz; eine gross angelegte Spenden-Sammlung wurde zum Erfolg. Das Ergebnis machte es dem Bischof möglich, für das Luzerner Priesterseminar an der Adligenswilerstrasse 15 ein eigenes, grosses Gebäude zu errichten – es wurde 1971 durch den heute bestehenden Neubau des Architekten Walter Rüssli abgelöst. Hierher verlegte die Luzerner Regierung 1890 die obere Abteilung der Höheren Lehranstalt. Die Verbindung mit dem Luzerner Gymnasium behielt sie vorerst bei – noch bis 1910 war ein einziger Rektor für beide Teile zuständig. Das Theologiestudium wurde durch die örtliche Zusammenlegung mit dem Priesterseminar auf die praktische Seelsorge ausgerichtet. Dies war gleichbedeutend mit dem Verzicht, die Theologie als akademische Disziplin zu betreiben. Gegen eine Etablierung im Bereich der Wissenschaft entstand zur gleichen Zeit ein weiteres entscheidendes Hindernis: Als Folge des Kulturkampfs gründete der Kanton Freiburg in einer Parforceaktion 1889 eine eigene Universität. Damit war ein deutliches Zeichen gesetzt: Freiburg beanspruchte seither für sich, in der Schweiz der primäre und einzige Ort für universitäre Bildung im katholischen Geist zu sein. Für das weltanschaulich und politisch gleich ausgerichtete Luzern blieb daneben auf absehbare Zeit kein Platz.