Wissenschaftsforschung: Zusprache Ambizione-Projekt
Die Faszination und Obsession im Zusammenhang mit einer riesigen Filmsammlung steht im Fokus einer geplanten Studie von Sarine Waltenspül. Nun wurde das Forschungsprojekt durch den Nationalfonds bewilligt.
In den 1990er-Jahren hatten Forschende postuliert, dass in der Gesellschaft und Wissenschaft das Bild und das Visuelle immer wichtiger werden. Mit Blick auf die heutige, von «Google Images» geprägte Zeit steht zusätzlich die These einer Obsession mit Bild/Video-Grossdatenbanken in Verbindung, die vorgeben würden, Wissen und Medien möglichst vollständig zu erfassen, anzuordnen und zugänglich zu machen. Trends in diese Richtung gab es schon davor: So wurde am Institut für den wissenschaftlichen Film in Göttingen (D) offiziell von 1952 bis 1990 die Encyclopaedia Cinematographica (EC) betrieben. Es handelt sich um eine Sammlung von über 3000 Filmen von Hunderten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Biologie, der Ethnologie und aus den technischen Wissenschaften.
Um die Thematik im Allgemeinen und die EC im Besonderen geht es im Forschungsprojekt «Visualpedia. ‹Atlas Encyclopaedia Cinematographica› und die Visual Science and Technology Studies» von Dr. des. Sarine Waltenspül. Sie wird die auf vier Jahre angelegte Studie ab dem September 2022 im Bereich Wissenschaftsforschung am Luzerner Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung durchführen. Möglich macht dies die Einwerbung von Drittmitteln des Schweizerischen Nationalfonds in der Höhe von rund 744'000 Franken im Rahmen des Förderinstruments «Ambizione» (siehe Box unten), womit die Saläre der Beteiligten und die Projektkosten gedeckt werden können. Zurzeit ist Sarine Waltenspül Junior Fellow am Collegium Helveticum und vertritt im aktuellen Semester die Professur für Medienästhetik von Prof. Dr. Ute Holl am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel, wo sie auch doktoriert hat.
Gefahr der Dekontextualisierung
Zurück zur Encyclopaedia Cinematographica: Die Sammlung landete schliesslich nach Umwegen in der Technischen Informationsbibliothek Hannover (TIB), die den Bestand sukzessive zu grossen Teilen online zugänglich macht. Immer wieder greifen auch Kunstschaffende auf den Fundus zurück. Allerdings werden aufgrund bestimmter Kriterien nicht alle Filme frei zugänglich gemacht, und in anderen Fällen – etwa bei Filmdokumenten aus der nationalsozialistischen Zeit – fehlen Angaben zur Einordnung. Sarine Waltenspül: «Durch die Zirkulationslogiken des Internets liegt die Gefahr einer Dekontextualisierung nahe, weswegen eine historisch-kritische Erforschung dringend geboten ist.»
Im ersten Teil des Projekts möchte Waltenspül – damit auf ihre Habilitationsschrift hinarbeitend – eine fundierte und methodisch reflektierte Basis schaffen, um Wissenschaftlerinnen und Künstlern die weitere Beschäftigung mit der EC zu ermöglichen. Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie die mitunter sensible Sammlung für Forschung und Öffentlichkeit umsichtig aktiviert werden kann. Dazu soll zum einen die interaktive Installation «Atlas Encyclopaedia Cinematographica» (kurz: EC 2.0) entstehen und zum anderen die Ausstellung «Fadenspiele», in der die Ethnologie-Filmsammlung der EC im Zentrum steht. Beim zweiten Teil sind als Projektmitarbeitende Dipl. Moritz Greiner-Petter, Dr. Mario Schulze und Dipl. Ute Sengebusch involviert.
Leitung eines eigenen Forschungsprojekts
Mit Ambizione-Beiträgen des Schweizerischen Nationalfonds können aussichtsreiche Postdoc-Forschende ein selbstständig geplantes Projekt an einer Schweizer Hochschule ihrer Wahl durchführen, verwalten und leiten. Sarine Waltenspüls Wahl fiel auf die Universität Luzern, genauer auf die Professur für Wissenschaftsforschung von Prof. Dr. Christoph Hoffmann, an die das Projekt angebunden ist. Diese Anbindung ermöglicht ihr die Schärfung des thematischen Fokus auf Wissens- und Sammlungsgeschichte. Ebenso sei der Austausch mit anderen Forschenden der Fakultät aus dem Feld der visuell interessierten Wissenschaftsgeschichte interessant, etwa mit Prof. Dr. Marianne Sommer oder Prof. Dr. Valentin Groebner.
Bis jetzt gab es an der Universität Luzern sechs weitere Ambizione-Stipendiatinnen und -Stipendiaten. Fünf der Projekte sind abgeschlossen (chronologisch, mit aktuellen Titeln: PD Dr. Michael Jucker, Dr. Leon Wansleben, Ass.-Prof. Dr. Nenad Stojanovic, Dr. Nicola Diviani und Ass.-Prof. Dr. Diego Garzia). Noch am Laufen ist das Projekt «Visions of the Social. The Transformation of State Planning in Postcolonial India» von Ass.-Prof. Dr. Sandra Bärnreuther, das sie an der Universität Zürich begonnen hatte. Seit Februar 2020 wirkt Bärnreuther an der Universität Luzern als Assistenzprofessorin für Ethnologie.