Studium oder Berufsbildung? Keine Gegensätze!
Die akademische sowie die berufliche Bildung stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten sprachen an der Konferenz «Humboldt und/oder Berufsbildung?» über Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Zukunftsaussichten.
Berufe wie Solarinstallateurin, Gebäudehüllenplaner oder User-Experience-Designerin gehören zu den neusten offiziellen Jobbezeichnungen des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Zur Liste des SBFI kommen dauernd neue Berufe hinzu. Für die Bildungslandschaft der Schweiz ist das keine leichte Aufgabe. Wie können Universitäten und Berufsschulen ihre Absolventinnen und Absolventen von heute auf die Berufe von morgen vorbereiten? Was können die akademische und die berufliche Bildung voneinander lernen? Diese Fragen thematisierten Vertreterinnen und Vertreter beider Bildungswege an der Konferenz «Humboldt und/oder Berufsbildung?», die am 11. April an der Universität Luzern stattfand. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) war ein einflussreicher Gelehrter, dessen Ideal einer ganzheitlichen Bildung das Schul- und Universitätswesen heute noch prägt. Sein Name stand am Anlass deshalb stellvertretend für die akademische Bildung. Die Veranstaltung eröffnete Bruno Staffelbach, Rektor der Universität Luzern, mit lobenden Worten für das Schweizer Bildungssystem. Sowohl die weltweit einzigartige duale Berufsbildung mit ihrer Praxisnähe als auch das innovationstreibende akademische Bildungssystem seien aufeinander angewiesen.
Nur vermeintlicher Widerspruch
Diese Gegenseitigkeit der Bildungssysteme betonte auch der erste Redner, Regierungsrat Armin Hartmann, Bildungs- und Kulturdirektor des Kantons Luzern. Hartmann legte einerseits dar, welche politischen Erwartungen an die Bildung im Allgemeinen, an Universitäten und an die Berufsbildung gestellt werden. Gleichzeitig analysierte er, wie viel «Humboldt» respektive Berufsbildung in den jeweiligen gesetzlichen Aufträgen steckt. Der Bildungsdirektor kam zum Schluss, dass in beiden Bereichen jeweils Elemente des anderen vorhanden seien – manchmal mehr und manchmal weniger. Wichtig sei jedoch, dass beide Bildungswege klare Profile aufweisen und gleichzeitig mehr Vernetzung anstreben. Auf der einen Seite brauche die Berufsbildung eine «breite Bildung im Humboldt’schen Sinn», und auf der anderen Seite benötigten Universitäten die Berufsbildung – «am besten über Vernetzung und Partnerschaften». Eine wichtige Komponente für mehr Chancengleichheit erkennt Hartmann vor allem in der Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen, denn «nur so erschliessen wir volkswirtschaftlich gesehen alle Fähigkeiten optimal». Insgesamt gibt Hartmann dem Bildungssystem gute Noten: «Die gesetzlichen Anforderungen werden heute zweifelsohne erfüllt.» Er unterstrich in seinem Vortrag jedoch auch, dass es in Sachen Vernetzung und Zusammenarbeit noch «unnötige Berührungsängste» gebe.
Mündigkeit als Fähigkeit
Als Vertreter der Berufsbildungswelt folgte Patrick Kilchmann, der sich als Präsident des Ausbildungszentrums Winterthur (AZW) für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung engagiert. Er plädierte dafür, die Berufsbildung als eine «Ausbildung fürs Leben» zu gestalten. Das zentrale Element dafür sei – ganz im Sinne Humboldts – das Konzept der Mündigkeit. In der komplexen und volatilen Welt von heute müssten Lernende mehr als nur die Fachkenntnisse ihres Berufs können. Neben der Arbeitsmarktfähigkeit solle den Lernenden die Fähigkeit mitgegeben werden, herausfordernde Lebenssituationen zu meistern, wertebasiert zu handeln und ihren persönlichen Beitrag zu leisten. Erfolg ist für Kilchmann deshalb «primär die Freude am Tun selbst».
Die Praxis im Studium
Den letzten Vortrag hielt Franca Contratto. Die Professorin für Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Finanzmarktrecht an der Universität Luzern betonte die Bedeutung der praxisnahen Bildung im akademischen Kontext. Diese sei sehr von der Praxis geprägt, sei es durch Studierende mit praktischem Background, praxisnahe Studieninhalte oder ganze Institute mit Praxisbezug wie etwa das Religionspädagogische Institut (RPI). Nähe zur Berufswelt sei auch in ihrem Fachgebiet der Rechtswissenschaft etabliert. Im Format «Law Clinic Wirtschaftsrecht» bearbeiten Jus-Studierende echte Rechtsfälle von öffentlichen oder privaten Institutionen. Darüber hinaus treten Studierende in fiktiven Gerichten, den sogenannten «Moot Courts», als Streitparteien in realitätsnahen Fällen gegeneinander an. Contratto resümierte, dass Praxisnähe zwar wesentlich zum Erfolg der akademischen Bildung beitragen könne, sie «jedoch weder ein Allheilmittel noch ein Selbstläufer» sei.
Humboldt heute
Abschliessend beantworteten die beiden Referenten und die Referentin Publikumsfragen. Unter anderem wurde die Frage gestellt, ob eine durchschnittliche Person dem Humboldt’schen Ideal einer ganzheitlichen Ausbildung überhaupt gerecht werden könne. Wie Bildungsdirektor Hartmann ausführte, könne dies zwar nicht ausnahmslos allen Menschen gelingen, dennoch «brauchen alle Menschen Elemente von Humboldt». Auf die Frage, welchen Stellenwert eine ganzheitliche akademische Bildung auf dem Arbeitsmarkt habe, verwies Rechtsprofessorin Contratto darauf, dass sie widersprüchliche Signale aus der Praxis erhalte. Zwar suchten beispielsweise Anwaltskanzleien Generalistinnen und Generalisten, gleichzeitig forderten diese von Jus-Absolvierenden ein hohes Mass an Spezialisierung.
Die Abschlussdiskussion sowie die drei Vorträge zeigten, dass die Berufsbildung und die akademische Bildung einerseits zwei verschiedene Zugänge zur Wissensvermittlung bieten. Andererseits vereint sie die gemeinsame Herausforderung, die Menschen von heute auf die Welt von morgen vorzubereiten. Die Referierenden waren sich einig, dass beide Systeme durch einen Austausch nur profitieren können, egal, ob der Arbeitsmarkt der Zukunft nun aus Solarinstallateuren, Gebäudehüllenplanerinnen oder aus bislang noch nicht existierenden Berufen besteht.