Studie zeigt junge Muslime kritisch und abwägend in Religionsfragen
Junge Musliminnen und Muslime in der Schweiz gehen mit den Aussagen religiöser Autoritäten deutlich kritischer und selbstbestimmter um als bisher angenommen. Das persönliche Umfeld spielt insgesamt eine grössere Rolle als bekannte Prediger. Dies ergab die zweijährige Untersuchung eines Forschungsteams der Universität Luzern.
Ausgangspunkt des Forschungsprojekts "Imame, Rapper, Cybermuftis" war die Frage, an welchen Autoritäten und Angeboten sich muslimische Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 30 Jahren in religiösen Dingen orientieren und wie sie damit umgehen. Dazu führte das Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Baumann ausführliche Interviews mit 61 jungen Frauen und Männern durch, deren religiöses Profil von nicht praktizierend bis hin zu umfassend praktizierend reicht. Die Studie "'Hallo, es geht um meine Religion!'" analysiert das reichhaltige Material mit vielen Zitaten in drei Hauptkapiteln über die Hinwendung zur Religion, Autoritäten und das Verhältnis der jungen Muslime zur Gesellschaft.
Persönlicher Kontakt wird hoch geschätzt
Das Interesse an religiösen Fragen zeigte sich bei einem Teil der Interviewpartner als plötzliche Hinwendung, bei anderen als eher gleichmässiger Prozess, in dem sich dennoch Phasen aktiver Suche mit Zeiten relativer Distanz abwechseln. Während sie das eine Mal konkrete Auskunft auf bestimmte klar umrissene Fragen suchen, ist es das andere Mal eher das Bedürfnis nach Beratung oder nach emotionaler Ermutigung. Doch noch aus anderen Gründen nutzen die Jugendlichen die unterschiedlichsten Angebote und Medien nebeneinander: Sie vergleichen oft unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Inhalte, um das für sie Passende zu finden. Insgesamt spielen Erklärungen und Meinungen von Eltern, Freunden und Vertrauenspersonen in Moscheegemeinden eine bisher unbeachtete wichtige Rolle. Entsprechend geringer als oft angenommen ist der Einfluss der Imame in den Moscheen oder von teils umstrittenen Internet-Predigern. Der persönliche Kontakt ist den jungen Muslimen wichtig, gegenüber Angeboten im Internet hegen viele eine gehörige Skepsis. Im Verlauf ihrer Suche nach Angeboten entwickeln sie überdies zunehmend genauere Kriterien dafür, welche Angebote zu ihnen passen und wo sie diese am ehesten finden.
Von privatisierter bis zu politisierter Religion
Bei ihren Entscheidungen ziehen die Jugendlichen ihre Lebensumstände in der Schweiz stets in Betracht. Dazu gehört nicht zuletzt der raue gesellschaftspolitische Diskurs zum Thema Islam, der viele von ihnen erst zum vertieften Fragen nach ihrer Religion gebracht hat. Sie reagieren mit unterschiedlichen Strategien. Manche beschränken alles Religiöse strikt auf den privaten Bereich, andere suchen beispielsweise am Arbeitsplatz pragmatische Lösungen von Fall zu Fall, wieder andere fordern die Möglichkeit zum Ausüben ihrer Praxis aktiv und öffentlich ein. Ihre Zukunft sehen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen fast ausnahmslos in der Schweiz, auch wenn sie ihr persönliches Verhältnis zur Schweiz wie zum Herkunftsland ihrer Eltern und Grosseltern durchaus verschieden empfinden und auch unterschiedliche Vorstellungen vom Schweizer Islam der Zukunft haben. Dabei zeigte sich auch: Organisationen, die öffentlich immer wieder kontrovers diskutiert werden wie der Islamische Zentralrat Schweiz oder das Forum für einen Fortschrittlichen Islam, spielen für die allermeisten jungen Musliminnen und Muslime in der Schweiz keine oder eine kleine Rolle.
Die Befunde des Forschungsprojekts widerlegen zwar etliche der öffentlich kursierenden Annahmen über junge Musliminnen und Muslime, fügen sich aber nahtlos ins Bild, das die jüngere Forschung von Angehörigen anderer, weniger kontroverser Migrationsreligionen in Westeuropa gewonnen hat. Auch dort finden sich die hier gezeigten Trends, die Religion der Eltern individueller, kritischer und eigenständig zu interpretieren.
Gefördert wurde das Forschungsprojekt mit 412'000 Franken von der Stiftung Mercator Schweiz. Die Feldforschung führten Dr. Jürgen Endres, Dr. Silvia Martens und Dr. Andreas Tunger-Zanetti durch. In den kommenden Monaten bietet das Luzerner Team Weiterbildungen für Fachleute in den Bereichen Schule, Jugend-, Sozial- und Integrationsarbeit an, wo die Forschungsergebnisse präsentiert und im Blick auf die Praxis vertieft diskutiert werden.