Millionen von Wörtern: Soziologie und Big Data
Ein Twitter-Beitrag ist auf 280 Zeichen beschränkt, die Daten aus Twitter, Facebook und Co. hingegen sind unendlich gross. Was das für die soziologische Forschung bedeutet, erklärte Prof. Dr. Sophie Mützel in ihrer Eröffnungsvorlesung zum «Digitalen Wandel».
Vesna setzt einen Tweet ab, Julian retweetet den Beitrag und die Soziologin seufzt. Was ist hier passiert? In der Vorlesung über die Auswirkungen von Big Data auf die soziologische Forschung ging es unter anderem um diesen Knackpunkt: Über Plattformen wie Twitter lassen sich zwar Unmengen an Daten gewinnen, aber sie sind eben auch lückenhaft. Wieso beispielsweise Julian Vesnas Tweet teilt, bleibt für die Forscherin unerklärt.
Trotz den neuen Herausforderungen erachtet Sophie Mützel, Professorin für Soziologie, die Beschäftigung ihres Fachs mit grossen Datenmengen als extrem wichtig. Wenn dies nicht geschehe, würden andere Disziplinen übernehmen und bestimmen, wie diese Daten gelesen würden. Die Referentin will andere Forschungsrichtungen wie Informatik oder Ingenieurwissenschaften aber nicht verdrängen, sondern plädiert für mehr Interdisziplinarität.
Öffentliche Ringvorlesung
Wie Interdisziplinarität aussehen kann, zeigt die Ringvorlesung gleich selbst. Das Organisationsteam um Sophie Mützel, Daniel Speich Chassé, Professor für Globalgeschichte, und Nadia Bühler hat Dozierende aus verschiedenen Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften dazu eingeladen. Bis im Mai findet alle zwei Wochen eine öffentliche Veranstaltung statt, wobei Algorithmen in Newsfeeds zum Corona-Referendum ebenso thematisiert werden wie die Geschichte der Informationsmaschinen und der Umgang mit heiklen Daten.
Die USA als Regenbogen
Dank vieler Beispiele aus ihrer persönlichen Forschung gelang es Sophie Mützel an der ersten Veranstaltung, die Auswirkungen von Big Data auf die Soziologie auch für Nicht-Soziolog*innen nachvollziehbar darzustellen. So untersuchte die Professorin einst die Erwähnung anderer Länder in den Reden aller Mitgliedsstaaten an den Generalversammlungen der UNO zwischen 1970 und 2017. Nicht weniger als 23 Millionen Wörter mussten dafür analysiert werden. Die grafische Veranschaulichung der Ergebnisse zeigt die USA als Regenbogen: Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden von allen Ländern am häufigsten erwähnt.
Substanzielle Fragen
Zurück zu Vesnas Tweet: Eventuell hat sie ihren Beitrag mit einem «hihi» ergänzt; Julian hätte wohl eher «haha» geschrieben. Sophie Mützel berichtete über eine Untersuchung, bei der sich herausgestellt hat, dass Frauen eher «hihi» und Männer eher «haha» schreiben. Sie kritisiert, dass es schwierig sei, aus solch einer Erkenntnis Schlussfolgerungen zu ziehen und plädiert für den Fokus auf substanzielle Fragen – auch wenn dies bedeute, disziplinäre Gewohnheiten zu lockern und in der Soziologie nicht nur nach Kausalität, sondern beispielsweise auch nach Korrelationen oder deskriptiven Erklärungen zu suchen.
Die Herausforderung grosser Datenmengen annehmen, interdisziplinär zusammenarbeiten und eine Weiterentwicklung herkömmlicher Herangehensweisen: Mit Big Data kommt einiges auf die Soziologie, aber auch die anderen Sozialwissenschaften zu. Der Diskurs in der Ringvorlesung «Digitaler Wandel» gibt Denkanstösse, in welche Richtung die Entwicklung gehen könnte.
Corinne Huwyler ist Masterstudentin am historischen Seminar.
Die Ringvorlesung
Alle Termine und Durchführungsorte der kostenlosen Ringvorlesung «Digitaler Wandel. Interdisziplinäre Sichtweisen auf Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung» finden Sie hier im Vorlesungsverzeichnis.
Die Vorlesung findet ab Mittwoch, 2. März, alle zwei Wochen statt. Dozierende, Themen und Daten entnehmen Sie dem Flyer.
In diesem Interview erzählt Sophie Mützel von den Inhalten der Ringvorlesung und warum sich die Sozialwissenschaften mit der Digitalisierung auseinandersetzen sollten.