«Ich strebe nach dem Überraschenden»
Valentin Groebner, Geschichtsprofessor an der Universität Luzern, wurde mit dem Kulturpreis der Stadt Luzern ausgezeichnet. Im Interview spricht er über seine Rolle als Vermittler, Herausforderungen der historischen Forschung und seine Leidenschaft für das Unbekannte.
Valentin Groebner, Sie lehren und publizieren seit vielen Jahren, werden von einem breiten Publikum gerne gelesen, geniessen Kultstatus unter der Studierendenschaft und werden jetzt mit dem Kulturpreis der Stadt Luzern geehrt. Was treibt Sie an?
Das Neue. Das, was ich noch nicht weiss. Ich habe eine ziemlich weite akademische Reise hinter mir – angefangen habe ich mit Wirtschaftsgeschichte, darüber habe ich meine Dissertation geschrieben. Wie überleben arme Leute in einer grossen Stadt im 15. Jahrhundert? Ernsthaftere Kollegen wären in diesem Feld geblieben, das ist gross genug, aber ich war neugierig und wollte weiter, in andere Bereiche. Zuerst ging es um Korruption, dann um Gewalt, dann die Entstehung der Ausweise, dann um Mittelalterinszenierungen in der Moderne, dann um Tourismus. Ich fürchte, ich arbeite nach dem Lustprinzip. Ich arbeite über Dinge, die gerade neu an meinem Horizont aufgetaucht sind und mich neugierig machen: Was ist das? Wie hat sich das verändert?
Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung der Stadt Luzern als Historiker und als Bürger von Luzern?
Der war eine grosse Überraschung – ich war ganz verblüfft. Das ist ja kein Wissenschaftspreis. Ich werde für meine Arbeit ausgezeichnet, die offenbar hinauswirkt in die Stadt und das ist ein ganz grosses Lob von aussen, das mich sehr glücklich macht. Natürlich schätze ich die positiven Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen, aber manchmal komme ich mir an der Universität ein bisschen wie in einem Spiegelkabinett vor: Wir versichern uns immer wieder selbst, wie toll und wahnsinnig wichtig wir sind. Universitätsprofessoren machen das schon seit 800 Jahren. Der Kulturpreis ist ein Feedback von ausserhalb dieses Spiegelkabinetts, und darüber freue ich mich riesig.
Wo sehen Sie als Historiker die Chancen, eine Stadt zu prägen und mitzuformen, sei es politisch, kulturell oder gesellschaftlich?
Ich halte eine ganze Menge vom Expertenprinzip: Als Wissenschaftler soll man sich zu dem äussern, wovon man wirklich etwas versteht. Es gibt sehr viele Themen, über die ich nicht mehr weiss als jede andere Medienbenutzerin. Die sind nicht meine Baustelle, die werden von Expertinnen und Experten erforscht, deswegen muss man die fragen, und nicht mich. Von Zeit zu Zeit muss ich also sagen: «Wichtige Frage! Leider weiss ich die Antwort auch nicht.» Und so ist es auch in diesem Fall: Das Aufregende an der Luzerner Kultur liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Ich kenne nur die Vergangenheit.
Mit Ihren Büchern, Essays und Vorträgen verbinden Sie Wissenschaft mit Unterhaltung und erreichen damit ein breites Publikum. Wie gelingt es Ihnen, komplexe wissenschaftliche Themen anschaulich und zugänglich zu machen?
Dafür werde ich bezahlt. Ich habe einen sehr privilegierten Job, den ich sehr gerne mache. Deshalb verlange ich von mir selber, so «unlangweilig» zu sein wie möglich. Wenn man etwas kurz und prägnant sagt und die Menschen zum Lachen bringt, merken sie es sich besser. Das ist ein sehr altes Prinzip, und es funktioniert bis heute. Ich bin nicht unterhaltsam, weil ich meinen Job nicht ernst nehme, sondern gerade weil ich ihn sehr ernst nehme.
Sie haben sehr viel publiziert. Was davon ist ihr persönliches Lieblingsbuch?
Das weiss ich nicht. Meine Bücher habe ich aus Neugier geschrieben, also eigentlich zu meinem Vergnügen. Deswegen handeln sie von dem, was mich damals interessiert hat. Das war im Jahr 2004 etwas ziemlich anderes als 2014 oder 2024. Als ich am Ende des 20. Jahrhunderts das Material über mein Buch über das Identifizieren und die Geschichte der Ausweise gesammelt habe [Anm. d.R: «Der Schein der Person: Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittalter. München, 2004»], war die Welt eine andere. Es gab noch keine maschinenlesbaren Ausweise, die wurden von besonders geschulten Beamtinnen und Beamten kontrolliert.
Für meine Recherche konnte ich damals an dem Kurs teilnehmen, den die Spezialisten der Zürcher Kantonspolizei für Leute anboten, die im Beruf Personalpapiere auf ihre Echtheit überprüfen mussten – in Banken z.B., auf der Post oder bei der SBB. Ich habe da viel gelernt, nur ist das heute alles komplett überholt. Wir leben längst in der Welt der digitalen Datenübertragung, in denen es um QR-Codes, Templates und Chips geht und nicht mehr um Stempel und Passfotos. Was ich damals gemacht habe, hat sich mittlerweile selbst in Geschichte verwandelt. Deswegen müssen meine Bücher jetzt von anderen Leuten neu geschrieben werden. Das finde ich ganz gut.
Gibt es ein Thema, dem Sie sich in Zukunft verstärkt widmen möchten?
Mich beschäftigt, dass die Museen immer mehr werden, und immer grösser. Es hat noch nie so viele Museen gegeben wie jetzt, und man erwartet sehr viel von ihnen. Verglichen mit der Schweiz von vor hundert Jahren leben wir einer «selbstmusealisierenden» Gesellschaft. Museen sollen das Unrecht von früher wieder gut machen. Alles soll bewahrt werden, gerettet, konserviert und gesichert – es gibt offenbar eine grosse kollektive Angst vor Verlust. Mich erinnert das an das Messi-Syndrom: Es darf nichts mehr weggeworfen werden. Was bedeutet dieses Horten, individuell und kollektiv?
Ich habe für mich Interviews als methodische Erweiterung entdeckt. Ich mache deshalb nicht nur meine historischen Recherchen, sondern setze mich ausserdem mit Leuten zusammen, die praktisch in diesem Feld arbeiten, in ganz unterschiedlichen Positionen, und stelle ihnen immer dieselben Fragen, in immer derselben Reihenfolge. Die Antworten sind wirklich überraschend – und irgendwann wird es ein Buch dazu geben. Ich weiss nur leider noch nicht wann. Denn es gibt Komplikationen, wie meistens.
Was meinen Sie mit Komplikationen?
Plötzlich tauchen Widersprüche auf; oder Fakten, die zu meinen Grundannahmen nicht passen; mein Konzept fällt auseinander. Dann ist es immer gut, das Projekt für einige Monate in die Schublade zu stecken und nachher zu schauen, was daraus werden könnte, mit frischem Blick. Es gibt auch Ideen und erste Entwürfe, die es nie mehr aus der Schublade herausgeschafft haben. Zu Beginn ist man ja immer ganz enthusiastisch und überzeugt vom eigenen Einfall. Es ist mir schon passiert, dass ich eine solche Idee sofort in einen Vortrag gepackt und dann während des Vortags gemerkt habe: «Das stimmt gar nicht, was ich erzähle!»
Was machen Sie in so einer Situation?
Normalerweise merken das die Leute im Publikum; die sind ja mindestens so smart wie ich, dann kommen richtig gute Fragen. Und die muss ich ernst nehmen, sie sind eine grosse Chance. Denn dadurch, dass etwas ordentlich schief geht, wird das Projekt nicht schlechter, sondern besser. Im konkreten Fall des misslungenen Vortrags habe ich das Ganze gründlich überarbeitet; am Ende ist daraus ein erfolgreiches Forschungsprojekt geworden. Der Umweg ist gut. Man wird gescheiter durch den Umweg. Und man lernt etwas Neues
Das ist ein schöner Rat zum Schluss. Ich danke Ihnen für das Interview und Ihre Zeit.
Weitere Infos
News-Beitrag «Kunst- und Kulturpreis für Valentin Groebner» vom 10. Juni 2024
Das Interview führte Chantal Hüsler, Bachelorstudentin in Geschichte und Rechtswissenschaft.