«Femizid»: ein blinder Fleck in der Statistik
Dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts strukturell Gewalt erfahren, ist auch in der Schweiz eine Realität. Derweil fehlen offizielle «Femizid»-Zahlen. Andrea Isabel Frei hat dazu eine Masterarbeit geschrieben – und wurde dafür ausgezeichnet.
In der Schweiz stirbt im Schnitt alle zwei Wochen eine Frau infolge Gewalt durch Männer, sei es durch Familienangehörige, Verwandte oder solche über diesen Kreis hinaus. Da amtliche Zahlen fehlen, geht diese Schätzung aus der Analyse von Medienberichten hervor. Politikerinnen und Politiker, Nichtregierungsorganisationen und weitere Stimmen aus der Zivilbevölkerung fordern seit einiger Zeit offizielle Statistiken zu Femiziden in der Schweiz. Genau hier setzt die Masterarbeit von Andrea Isabel Frei an. Der Titel ihrer auf Englisch realisierten Studie lautet: «The Making of a Number. Counting Attempted and Completed Killings of Women in the Domestic Sphere. A Swiss Scenario on Femicides». Diese «Number» erfasst das Bundesamt für Statistik, gestützt auf Zahlen der Polizei: Im Jahr 2020 wurden in der Schweiz 93 Opfer «versuchter oder vollendeter Tötungsdelikte» im Kontext häuslicher Gewalt gezählt – darunter 68 Frauen und 25 Männer.
Andrea Frei ging der Frage nach, aus welchen Prozessen solche Zahlen zu versuchten und vollendeten Tötungen von Frauen im häuslichen Bereich (diese Kategorie kommt Femiziden am nächsten) resultieren und wie diese mit der Kategorie «Femizid» zusammenhängen. Dazu wandte Frei sowohl quantitative als auch qualitative Methoden an: Acht Interviews mit Expertinnen und Experten, rund 50 Dokumente sowie mehrere Datensätze bildeten die Datengrundlage. So konnte Frei ermitteln, welche Akteurinnen und Akteure auf welche Weise auf die statistische Erfassung von Tötungen im häuslichen Bereich Einfluss nehmen und was dies für die öffentliche Wahrnehmung dieser extremen Gewalt an Frauen sowie für die Forderung nach einer Zählung von Femiziden bedeutet.
«Geschlechterbasierte Gewalt als Realität»
Wie Frei schlussfolgert, wäre es wichtig, «Femizid» als offizielle Kategorie festzulegen, sodass geschlechterspezifische Tötungen an Frauen in der Kriminalstatistik als solche repräsentiert sind. Diese Form von Gewalt würde dadurch als «soziales Phänomen» sichtbar werden. Im Zuge dessen soll die Öffentlichkeit besser informiert, politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sollen sensibilisiert und präventive Massnahmen gestärkt werden. Die Klassifizierung «häusliche Gewalt» statt «Femizid» suggeriert beispielsweise, so Frei, dass die Dimensionen Geschlecht und strukturelle Ungleichheit keine Rolle spielen. Die eigentliche Ursache des Tötungsdelikts gerät damit aus dem Blickfeld. Frei hält fest: «Eine offizielle Statistik zu Femiziden bedeutet auch, die gesellschaftliche Tatsache von geschlechterbasierter Gewalt als Realität anzuerkennen ».
Aus der Masterarbeit geht hervor, dass der Einsatz von nötigen Ressourcen (Zeit, Fachpersonal seitens Polizei und Statistik) für eine qualitativ hochwertige Kriminalstatistik, welche die strukturelle Gewalt an Frauen mitdenken und sichtbar machen sollte, entscheidend ist: Die Erkennung und Einordnung von geschlechterspezifischen Gewalttaten ist eine kulturelle Leistung, die ohne Kenntnisse über ihre Ursachen von den relevanten Stellen nicht angemessen erbracht werden kann. Das betrifft auch die Opfer, da in der Kriminalstatistik nur die Fälle berücksichtigt werden, die der Polizei gemeldet werden.
Preis für beste Masterarbeit
Andrea Frei hat den Master in Computational Social Sciences (LUMACSS) (siehe Box) in diesem Sommer erfolgreich zu Ende studiert. Für Ihre Abschlussarbeit hat sie den Preis für die beste Masterarbeit an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in diesem Semester, gestiftet von der «ALUMNI Organisation» der Universität Luzern, erhalten. Betreut wurde die Studie von Prof. Dr. Kenneth Horvath. Der ehemalige Oberassistent am Soziologischen Seminar Luzern konstatiert in der Laudatio: «Andrea Frei hat mit ihrer Arbeit ein herausragendes Beispiel dafür geliefert, wie gesellschaftliche Relevanz, kritisches Denken und empirische Analyse in der Sozialforschung miteinander verbunden werden können.» Frei war bis Ende September 2022 ausserdem als Hilfsassistentin im SNF-Sinergia-Projekt «In the Shadow of the Tree» (Artikel zum Thema) am Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung an der Universität Luzern tätig.
Einzigartige Kombination
Der Lucerne Master in Computational Social Sciences (LUMACSS) wird seit 2019 angeboten und ist interdisziplinär ausgerichtet. Mit seiner Kombination von Studienleistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften, Statistikveranstaltungen und solchen aus dem Bereich der Computational Social Sciences, also computergestützter Sozialwissenschaften, ist er schweizweit einzigartig. Der teilweise auf Englisch gehaltene Studiengang befasst sich mit Fragestellungen der Digitalisierung und von «Big Data» sowie der Vermittlung von Digital Skills; er ist am Seminar für Politikwissenschaften der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt.