Aufklärung: Prozess mit etlichen Funktionen und Variablen
Am 22./23. März 2019 fand an der Universität Luzern die Tagung "Aufklärung und Religion" statt. Die Stiftung Lucerna bot mit diesem Format eine Plattform für lokale und internationale Rednerinnen und Redner, die das Thema aus ihrer je eigenen Perspektive mit fundierten Referaten beleuchteten.
Was "Aufklärung" ist, scheinen viele Menschen zu wissen. Stets wird die "Aufklärung" angerufen, wenn es um echte oder auch nur vermeintliche Vorurteile und Verblendungen geht, um Irrationales oder Mythisches. Immanuel Kants Satz, Aufklärung sei der Ausgang aus der "selbst verschuldeten Unmündigkeit" glauben (noch) die meisten Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zu verstehen. Zu offensichtlich scheint zu sein, wogegen sich Aufklärung sich wendet, nämlich in erster Linie gegen die Religion. Eine fundamentale Kritik der Religion durch die Aufklärung gibt es indessen nicht. Im Gegenteil: Immanuel Kant wollte den christlichen Gott leben lassen, und sei es aus sittlichen Gründen. Und mit ihm halten es viele Menschen, bis auf den heutigen Tag. Sie meinen in der Religion sogar eine Instanz des Vernünftigen zu erkennen, das alle irdische Unvernunft transzendiert.
Es bedarf vielleicht einer Initiative, die nicht nur aus der akademischen Welt kommt, um sich dem Verhältnis von Religion und Aufklärung in einer solchen Direktheit und Offenheit zuzuwenden, wie es am vorletzten Märzwochenende die Stiftung Lucerna tat. Sie hatte sich dazu mit der Universität verbunden, nicht nur in Gestalt von Boris Previšić, Professor am Seminar für Kulturwissenschaften der Universität Luzern, und Thomas Steinfeld, Titularprofessor am selben Seminar (beide sind Stiftungsräte der Lucerna), sondern auch, indem sie die Form eines gelehrten, interdisziplinären Symposions wählte und damit in die Universität ging. Dass man damit über eineinhalb Tage hinweg ein Publikum von 50 bis 60 Menschen binden konnte, die keineswegs alleinig aus dem akademischen Milieu stammten, spricht dafür, dass sich mit dem Verhältnis von Aufklärung und Religion ein nach wie vor ungelöstes, existenzielles Problem verknüpft.
Rückzug der Religion – Vorstellung von Gesellschaft
Nach der Begrüssung durch Previšić und Armin Wildermuth, emeritierter Professor für Philosophie (St. Gallen), der die Tagung konzipiert hatte, begann der erste Vormittag mit Sichtungen der Lage, die, jede für sich, ein Bild der Aufklärung entwarfen, die nun gar nicht mehr so selbstverständlich und eindeutig wirkte, wie es die landläufige Meinung haben will: Elisabeth Décultot (Halle), stellte anhand von französischen und Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar, inwieweit zwei Motive der Aufklärung ineinandergriffen: der Rückzug des Religion ins Subjektive und die Entstehung einer Vorstellung von Gesellschaft. Ives Radrizzani (München) verfolgte die aus einem starken Begriff der Praxis (oder des "Unphilosophischen") sich speisende Kritik der Aufklärung, die Friedrich Heinrich Jacobi gegen Fichte wendete. Bernd Auerochs (Kiel) führte am Beispiel Moses Mendelssohns vor, wie eng die Emanzipation der Juden an eine Vorstellung gelingender Aufklärung gebunden war.
Am Nachmittag wurden die Perspektiven geöffnet: Thomas Steinfeld stellte dar, in welchem Masse sich in Johann Joachim Winckelmanns Verehrung für die antike Kunst der Keim einer neuen, säkularen Religion, der Kunstreligion, verbirgt. Der Astronom Bruno Binggeli (Basel) betrachtete die Aufklärung aus kosmischer Perspektive. Sie sei es gewesen, die den entstehenden Naturwissenschaften nicht nur den intellektuellen Raum, sondern auch den Willen zur Erkenntnis verliehen habe. Der Physiker Ernst Peter Fischer (Heidelberg) schliesslich führte aus der Perspektive eines Naturwissenschaftlers vor, wie die Naturwissenschaften, je weiter sie in ihren Erkenntnissen vorandringen, vor immer neuen und grösseren metaphysischen Problemen stehen – und also Erfahrungen machen, die in der Aufklärung präfiguriert wurden.
Selbstverständnis des Judentums als "Lerngemeinschaft"
Der zweite Vormittag war drei Untersuchungen zur Frage gewidmet, wie eng das Verhältnis von Aufklärung und Religion war und vermutlich immer noch ist. Verena Lenzen (Luzern) betrachtete die Aufklärung aus jüdischer Perspektive, mit besonderem Augenmerk auf das Selbstverständnis des Judentums als "Lerngemeinschaft" und auf die enge Bildung zwischen aufgeklärtem Judentum und bürgerlichen Bildungsidealen. Christian Maurer stellte vor, in welchem Masse sich die schottische Aufklärung nicht nur im Rahmen von religiösen Korporationen vollzog, sondern tatsächlich durch Debatten innerhalb des Calvinismus getragen wurde. Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler an der Universität Bern, stellte abschliessend dar, inwiefern die geläufige Behauptung, "der Islam" kenne gar keine Aufklärung, auf interessierten Missverständnissen beruht: nicht nur, weil sie meist ohne Kenntnisse der islamischen Kulturen ausgesprochen werde, sondern auch, weil sie systematisch verfehle, in welchem Masse die Aufklärung selbst von religiösen Motiven getragen gewesen sei. Stattdessen habe es parallele, 'aufgeklärte' Bewegungen in allen Gesellschaften gegeben, die von diesen Religionen geprägt worden seien, beginnend im 15. Jahrhundert.
Nach diesem Vortrag hätte die Veranstaltung, so meinten etliche der Teilnehmenden, noch einmal von vorn beginnen können: Es war nicht nur erkennbar geworden, wie irrig die landläufige Vorstellung von einer Aufklärung ist, die sich hauptsächlich gegen die Religion wendet. Vielmehr wurde auch ein anderer, präziserer Begriff von Aufklärung deutlich: als intellektuelle Bewegung, als Prozess mit etlichen Funktionen und Variablen.
Thomas Steinfeld
Flyer der Tagung "Aufklärung und Religion"
Vom 30. September bis 2. Oktober 2019 findet die nächste Lucerna-Tagung statt, und zwar zum Thema "Nature, Culture and Perception. From the Amazon to the Alps" in Luzern und Altdorf. Nähere Informationen folgen zu gegebener Zeit auf der Stiftungs-Website.