Manuel Oechslin, Professor für Internationale Ökonomie, fragt – Sebastian Heselhaus, Ordinarius für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung, antwortet.

Patina angesetzt: Impression vom Credit-Suisse-Hauptsitz in Zürich. (Bild: ©istock.com/Rafael_Wiedenmeier)

Hintergrund der von Professor Manuel Oechslin gestellten Frage stellt bspw. das Handeln bei der CS-Übernahme sowie eine Reihe von Covid-Verordnungen während der Pandemie, die der Bundesrat erlassen hatte, dar. Der Begriff «Notrecht» ist in der Bundesverfassung (BV) nicht bestimmt. Mit Notrecht soll von bestehenden Regelungen abgewichen werden, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern, um grosse Gefahren abzuwehren. Bei der vorliegenden Frage geht es um das konstitutionelle Notrecht, also um die Regelungen in der BV für Notsituationen. Dabei kann es zu Abweichungen von Gesetzgebungsverfahren mit Folgen für die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip kommen oder auch von materiellen Vorgaben, wodurch Vorhersehbarkeit des Rechts und Rechtssicherheit beeinträchtigt werden können.

CS: Ausweitung erfolgt

In den Beispielen hat der Bundesrat, gestützt auf die beiden Artikel 184 und 185 BV, sogenannte selbstständige Verordnungen, also ohne Grundlage in einem Gesetz, erlassen. Gegen diese kann kein Referendum ergriffen werden. Dass die Bundesversammlung nicht entscheidet, ist hingegen weniger problematisch, da sie über Art. 173 BV selbst vorrangig entsprechende Verordnungen erlassen könnte. Wegen dieser Folgen ist das Notrecht eng ausgestaltet: Art. 185 BV verlangt, dass eine schwere Störung der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit eingetreten ist oder unmittelbar droht. Das wird in beiden Beispielsfällen von vielen angenommen. Zudem müssen die Verordnungen nach Art. 184 oder Art. 185 BV befristet werden. Eine Befristung schützt aber nicht davor, dass wie im CS-Fall ein fait accompli geschaffen wird. Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass solche Verordnungen das übrige Recht, wie die Grundrechte, das Gebot der Verhältnismässigkeit und die anderen Gesetze, einhalten müssen. Doch werden im CS-Fall Abweichungen von gesetzlichen Aktionärsrechten gerügt. Hier sind die bisherigen Notrechte also ausgeweitet worden.

Im Fall der 2009 von der Aufsichtsbehörde Finma angeordneten Herausgabe von UBS-Bankdaten an US-Behörden reichte das Bankengesetz nicht aus. Ohne Vorliegen einer Notverordnung hat das Bundesgericht (BGer) Art. 185 BV in Verbindung mit einer weiteren Notregelung als Grundlage akzeptiert: die ungeschriebene allgemeine polizeiliche Generalklausel im Fall einer ernsten, unmittelbar und nicht anders abwendbaren Gefahr (Art. 36 BV). Das BGer hatte hier immerhin geprüft, dass die Finma (im Auftrag des Bundesrates) Grundrechte eingehalten hat und ihre Massnahme verhältnismässig war. Doch bei den Verordnungen des Bundesrates nach Art. 184, 185 BV ist das BGer gemäss Art. 189 BV nicht zuständig.

Überarbeitung legitim

Aufgrund der Entwicklung wird zu Recht vermehrt nach einer Überarbeitung des Notrechts gerufen. Dabei sollten nicht nur die Rechte der Bundesversammlung, sondern auch eine angemessene Rechtskontrolle diskutiert werden.

Sebastian Heselhaus

Ordinarius für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung
unilu.ch/sebastian-heselhaus

Im Gefäss «Gefragt? Geantwortet!» stellen sich Forschende im Domino-System disziplinübergreifend Fragen und beantworten diese. Antwort des Fragestellers, Professor Manuel Oechslin, auf die vorherige Frage