Joachim Blatter hat konkrete Vorschläge, wie man Wahlen in Europa revolutionieren könnte. Der Politikwissenschaftsprofessor propagiert grenzüberschreitendes Wählen als Rezept gegen abgehobenes Regieren und Abschottungstendenzen.

(Bild: istock.com/_marqs)
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Interdependenzbewältigung statt Nationalismus – aber ohne Zentralisierung: So umreisst Joachim Blatter auf einer abstrakten Ebene das Gedankengebäude, mit dem er sich seit längerer Zeit beschäftigt. Dies im Rahmen seiner Tätigkeit als Ordentlicher Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie an der Universität Luzern im Allgemeinen und im Konkreten seit rund einem Jahr zusätzlich beim von ihm geleiteten Forschungsprojekt «Auf dem Weg zum transnationalen Wählen in/für Europa?!». Mit insgesamt 581'000 Franken vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert, läuft dieses noch bis Ende Februar 2021. 

Zeit für einen Einblick in das Projekt, zumal der Zeitpunkt überaus günstig ist im Vorfeld der kommenden Europawahl 2019 Ende Mai, zu der die angestellten Überlegungen einen direkten Konnex haben, auch wenn sie darüber hinausweisen. Bei den in der Europäischen Union (EU) alle fünf Jahre durchgeführten Volkswahlen werden die (bislang) 751 Abgeordneten des in Strassburg tagenden Europäischen Parlaments bestimmt. Medial für Aufmerksamkeit sorgt aktuell neben dem Umstand, dass die Briten wohl trotz des Brexit-Votums noch einmal teilnehmen müssen, Prognosen, die eine Stärkung von populistischen und nationalistischen Parteien erwarten lassen.

Brüsseler Politik als zu weit entfernt erlebt

Joachim Blatter, Ordentlicher Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie
Joachim Blatter, Ordentlicher Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie

Keineswegs einzig auf den Brexit bezogen, konstatiert Blatter: «Die EU befindet sich in einer Krise.» Viele Bürgerinnen und Bürger würden die Politik aus Brüssel, wo mit der Europäischen Kommission die EU-Exekutive ihren Sitz hat, als zu weit weg und als zu technokratisch wahrnehmen. In vielen Ländern reagierten die Menschen darauf mit der Wahl nationalistischer Populisten. Dem Politologen zufolge könnte diesem Auseinanderdriften mit politischen Mitteln Gegensteuer gegeben werden; im Rahmen des SNF-Projekts präsentiert er zwei konkrete Vorschläge: «Der erste zielt darauf ab, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl – anders als bis anhin – auch Parteien aus anderen Ländern als denjenigen ihres Aufenthaltslandes wählen könnten.» Der zweite geht noch weiter: «Alle Europäerinnen und Europäer hätten das Recht, sich an den nationalen Wahlen anderer europäischer Länder zu beteiligen, auch wenn sie dort weder wohnhaft sind noch den Bürgerstatus besitzen.»

Inwiefern könnte dies ein Ausweg aus der diagnostizierten Krise sein? «Beide Vorschläge dienen dazu, den politischen Parteien mehr Anreize zu geben, beim Politisieren nicht ausschliesslich die Interessen ihrer jeweiligen Landesbürgerinnen und -bürger im Blick zu haben.» Wie stark dies aktuell der Fall ist, zeige sich in der EU bei der Flüchtlings-, aber auch bei der Finanz- und Währungspolitik. Joachim Blatter: «Durch den ersten Vorschlag würde die Europawahl nicht mehr aus 28 parallelen nationalen Wahlen bestehen. Die Parteien, die antreten, müssten ihren Horizont erweitern, könnten gleichzeitig aber national verankert bleiben.»

Der Miteinbezug von Aussensichten stellt beim demokratischen Prozess immer einen Gewinn dar.
Joachim Blatter

Nationale Wahlen und Parlamente öffnen

Der zweite Vorschlag basiert auf der Überlegung, dass die Nationalstaaten auch in der EU nach wie vor die wichtigsten politischen Einheiten sind und dass eine demokratischere und gleichzeitig effizientere gemeinsame Politik über die Stärkung und Transnationalisierung der nationalen Parlamente laufen muss. «Dies könnte geschehen, indem in jedem nationalen Parlament einige Sitze für die Vertreter der Bevölkerung der anderen Länder reserviert werden und den Bürgern dieser Länder die Möglichkeit gegeben wird, diese Vertreter selbst zu wählen.» Die Selbstbestimmung der Nationen werde dadurch nicht aufgehoben, sondern nur durch eine gegenseitige Mitbestimmung ergänzt. Blatter zufolge würde beispielsweise die deutsche und die italienische Meinungsbildung zur europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik bereichert, wenn im Deutschen Bundestag einige italienische Repräsentanten sitzen würden und im Parlament in Rom einige Vertreterinnen, die von der deutschen Bevölkerung gewählt wurden. «Der Miteinbezug von Aussensichten stellt beim demokratischen Prozess immer einen Gewinn dar.»

All das würde den Bürgerinnen und Bürgern die Politik wieder näherbringen und um sich greifende Verdrossenheit, Wut und Ohnmachtsgefühle reduzieren, ist Joachim Blatter überzeugt. «Die Menschen hätten eine konstruktive Möglichkeit, sich vermehrt in eine Politik einzubringen, die notwendigerweise immer mehr durch transnationale Verflechtungen und gemeinsames Regieren gekennzeichnet ist.» Die Idee sei, einen Mittelweg zwischen Nationalismus und Supra-Nationalismus zu eröffnen: «Ein System sich horizontal überlappender nationaler Demokratien wäre eine Alternative zu einem System souveräner Nationalstaaten, die eher rivalisieren als kooperieren, und zu einem System, in dem sich die Nationalsaaten einer zentralen Instanz unterwerfen.»

Vielfältige Anwendbarkeit

Der Clou an den beiden Reformvorschlägen, die in den letzten Monaten eingehend in Fachkreisen diskutiert wurden: «Diese sind auch ausserhalb der EU anwendbar, so zum Beispiel in bilateralen Beziehungen zwischen Ländern oder auf tieferen staatlichen Ebenen», sagt Professor Blatter. Beispielsweise sei am Beispiel Luzern vorstellbar, dass in den Parlamenten der Kantone Zug und Luzern Vertreter der jeweils anderen Kantonsbevölkerung sitzen. Oder dass im Luzerner Stadtparlament auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier Einsitz haben, die von den Nachbargemeinden gewählt wurden – und umgekehrt.

«Doppelbürgerinnen und -bürger sind nicht, wie zuweilen befürchtet, illoyal.»

Die optimistische Sichtweise Blatters, was die Effekte des grenzüberschreitenden Wählens betrifft, fusst auf den Resultaten seiner früheren, ebenfalls vom SNF und von der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) geförderten Forschung zu Doppelbürgerinnen und -bürgern, die in der Schweiz besonders stark vertreten sind. «Hier hat sich deutlich gezeigt, dass sich Doppelbürger, nicht wie zuweilen befürchtet, ihrem Aufenthalts- oder ihrem Herkunftsland gegenüber illoyal verhalten.» Eine nicht ganz unbedeutende Minderheit beteiligt sich in beiden Ländern und bringt dort die Interessen des jeweils anderen Landes mit ein. Der Umstand, dass viele Doppelbürger die Möglichkeit haben, in mehreren Ländern am politischen Prozess teilzunehmen, habe Modell gestanden bei der Ausarbeitung der beiden Vorschläge. Weil dieses Privileg des Mehrfachwählens zurzeit nicht alle Bürger haben, ist diese Praxis nicht unumstritten. «Statt den Doppelbürgern die Möglichkeit wegzunehmen, sollte man sie allen Bürgerinnen und Bürgern eröffnen», meint Blatter.

Umfrage bei Parteien und Bürgern

Das aktuelle Forschungsprojekt belässt es aber nicht beim rein normativen Rahmen – es gibt auch einen empirischen Teil, in dem Postdoc-Projektmitarbeiter Elie Michel eine zentrale Rolle spielt: «In einer repräsentativen Umfrage befragen wir die Bürgerinnen und Bürger in den EU-Mitgliedsländern und der Schweiz, wie sie zu den skizzierten Vorschlägen stehen.» Von den Doppelbürgern wolle man in Erfahrung bringen, ob sie diese Option bereits nutzen.

Im Zusammenhang mit «euandi2019», der offiziellen Wahlhilfe zur aktuellen Europawahl, werden parallel dazu Positionen der Parteien in Europa zur Transnationalisierung der Europawahlen erhoben. Bei «euandi» andelt sich um ein Projekt des European University Institute (EUI) in Florenz, das in enger Zusammenarbeit mit der Universität Luzern unter der Leitung von SNF-Ambizione-Stipendiat Diego Garzia und Politikwissenschaftsprofessor Alexander H. Trechsel (beide vom Politikwissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern und Fellows am EUI) durchgeführt wird. Ebenfalls gibt es eine Kollaboration mit «Spaceu2019». Auch am EUI angesiedelt, wird dieses Projekt, in dessen Rahmen sich Doppelbürger über ihre Optionen an der Europawahl informieren können, ebenfalls von Trechsel und Garzia koordiniert (Newsmeldung vom 2. Mai 2019).