Itir Bozkurt Umur kam vor zehn Jahren mit ihrem Mann aus Istanbul nach Hergiswil NW. In dieser Zeit hat die heute 39-Jährige nicht nur einen Master absolviert, sondern auch eine Doktorarbeit verfasst.
Stellen Sie sich vor, Sie verbringen die ersten 29 Jahre Ihres Lebens in einem kleinen Dorf in der Zentralschweiz, nur um dann Ihre Sachen zu packen, um in einer 2000 Kilometer entfernten Grossstadt ein neues Leben anzufangen. Klingt nach einem Kulturschock – «und das ist es auch», bestätigt Itir Umur Bozkurt. Die Türkin hat nämlich genau das getan, wenn auch in die umgekehrte Richtung. Nach Kindheit, Schule, Uni und erfolgreichem Karrierestart im Bereich der Marktforschung liess sie ihre Heimat hinter sich und startete im nidwaldnerischen Hergiswil einen Neuanfang. Der Grund? «Wie so oft: die Familie», erklärt die 39-Jährige. Ihr damaliger Verlobter und heutiger Ehemann Onur erhielt ein Jobangebot im Finanzbereich eines Pharmaunternehmens in der Region. «Also entschied ich mich, mit ihm zu gehen.»
Kleine und grosse Unterschiede
Einfach war der Schritt für das Paar derweil nicht, wie auch? «Ich hatte davor weder von Hergiswil noch von Luzern gehört.» Neu waren aber nicht nur die Ortsnamen, sondern auch das Lebensgefühl. «Ich war ein Stadtmensch, habe stets in einer Millionenmetropole gelebt.» Hergiswil und Istanbul – die Begriffe stehen nicht nur für zwei Ortsnamen, sondern für zwei Welten. Nebst den klassischen Themen, Spontaneität versus Pünktlichkeit zum Beispiel, würden sich die verschiedenen Lebensweisen insbesondere im Sozialleben zeigen. Bozkurt Umur: «In Istanbul findet die Sozialisierung über gemeinsames Essen, Trinken und Feiern statt, in der Schweiz trifft man sich beim Wandern.» Ein weiterer Unterschied: Während Istanbul rund um die Uhr pulsiere und jederzeit alles möglich scheine, müsse man hier sogar den Wocheneinkauf im Voraus planen.
Nach zehn Jahren in der Zentralschweiz hat sich Itir Bozkurt Umur an den neuen Rhythmus gewöhnt. Nicht nur sie: «Unsere beiden Kinder, die hier geboren sind, sind mehr Schweizer als Türken», berichtet sie lachend. Und auch sie selbst habe sich verändert. Das spüre sie immer dann, wenn sie nach Istanbul fliege und Bekannte von früher treffe. Um sich ihre Herkunft trotz allem zu bewahren, achten sie und ihr Mann darauf, dass sie zu Hause die türkische Kultur pflegen. «Wir sprechen ausschliesslich Türkisch mit den Kindern und kochen gerne traditionelle Gerichte», sagt Bozkurt Umur. Ausserdem spiele ihr Mann türkische Gitarre.
Der Studiengang war ideal für mich, konnte ich dabei doch meine Erfahrungen aus dem Feld der Marktforschung einbringen.
Zu Beginn halfen ihr die Klänge und die Gewürze aus ihrer Kindheit auch, mit dem Heimweh klarzukommen. «Ich habe meinen Job, meine Familie und meine Freunde hinter mir gelassen. Das war am Anfang schwierig.» Für Itir Bozkurt Umur war das aber kein Grund, aufzugeben oder sich zurückzuziehen – im Gegenteil: Kaum in der Schweiz angekommen, begann sie intensiv Deutsch zu lernen. Ausserdem investierte sie viel Zeit und Effort in den Aufbau eines sozialen Umfelds. «Zu Beginn waren es vor allem internationale Bekanntschaften, doch je länger wir hier waren, desto mehr Schweizer Freunde und Kolleginnen kamen dazu.» Auch akademisch fasste Itir Bozkurt Umur bald Fuss: An der Universität Luzern bot sich ihr die Möglichkeit, den Master in Public Opinion and Survey Methodology zu absolvieren. «Der Studiengang war ideal für mich, konnte ich dabei doch meine Erfahrungen aus dem Feld der Marktforschung einbringen.» Nach dem Abschluss und der darauffolgenden Mutterschaftspause erhielt Itir Bozkurt Umur im November 2018 die Chance, am Lehrstuhl von Leif Brandes, Ordentlicher Professor für Marketing & Strategie, eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin anzutreten.
Theorie trifft auf Praxis
Itir Bozkurt Umur war die erste Doktorandin von Leif Brandes. «Im Laufe der Jahre konnten wir gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen den Lehrstuhl aufbauen, was uns zusammenschweisste.» Was sie an der Arbeit an der Uni Luzern in den vergangenen Jahren besonders schätzte, war die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Diese Verknüpfung versuchte sie auch in ihrer eigenen Lehrveranstaltung «Market Research in Practice» zu fördern. So hat sie zum Beispiel wiederholt Firmen ins Boot geholt und gemeinsam mit den Studierenden Praxisaufgaben bearbeitet. «Das hat mir – und ich glaube, auch den Studierenden – immer viel gebracht und Freude bereitet.»
Keine Frage: Die vergangenen Jahre waren für Itir Bozkurt Umur intensiv, prägend und bereichernd. «Ich habe es geschafft, in einem neuen Land anzukommen, einen Masterabschluss zu erlangen, eine Stelle zu finden, eine Familie zu gründen.» Und nicht zu vergessen: eine Dissertation zu schreiben. In «Trustbound Journeys. The Interplay of Transparency, Relationship Marketing, and Technology in Buyer-Seller Relationships» befasste sie sich mit den verschiedenen Aspekten der Kommunikation von Verkäufern mit ihren Kundinnen und Kunden. So ging sie etwa der Frage nach, welche Folgen es hat, wenn ein Verkäufer, eine Verkäuferin gegenüber der potenziellen Kundschaft transparent über das Thema Provision spricht. «Überraschenderweise wirkt sich dies positiv auf das Kaufverhalten aus.»
Ich möchte baldmöglichst wieder zurück ins Berufsleben – am liebsten in einem akademischen Umfeld.
Mit der Fertigstellung ihrer Dissertation und der mündlichen Präsentation, die Mitte Juni erfolgreich stattgefunden hat, endet auch Itir Bozkurt Umurs Vertrag am Lehrstuhl von Professor Brandes. Sie freut sich darauf, bald wieder mehr Zeit für die Familie zu haben, doch zugleich ist für sie klar: «Ich möchte baldmöglichst wieder zurück ins Berufsleben.» Am liebsten möchte sie im akademischen Umfeld bleiben, jedoch nicht als Forscherin. «Vor zehn Jahren hätte ich mir vermutlich eine Postdoc-Stelle ausgesucht, doch mittlerweile sind meine Lebensumstände nicht mehr mit diesem Vorhaben kompatibel.» Was sie meint: «Um eine akademische Karriere voranzutreiben, muss man mobil und offen sein.» Offen zum Beispiel, ins Ausland zu gehen. Für Itir Bozkurt Umur ist dies kein Thema (mehr). «Ich habe eine Familie und zwei Kinder. Ich brauche Stabilität in meinem Leben.»
Stattdessen könnte sie sich gut vorstellen, weiter an einer Universität tätig zu sein. Spannend fände sie eine Anstellung bei einer Graduate School oder einem International Relations Office. «Ich glaube, dass ich mit meinem gut gefüllten Rucksack gerade auch Studierenden aus anderen Ländern helfen könnte.» Und falls es doch nicht klappen sollte mit einer Stelle im akademischen Umfeld, wird sie sich in der Privatwirtschaft umschauen, wo sie über viel Erfahrung verfügt. Fest steht für Itir Bozkurt Umur: Eine Rückkehr nach Istanbul ist für sie und ihre Familie derzeit kein Thema. «Ich bin mittlerweile ein grosser Fan von Hergiswil. Die Nähe zur Natur, zu Luzern, die idyllische Umgebung für die Kinder – das ist alles ungemein viel wert.» Itir Bozkurt Umur betont: «Nach dem anfänglichen Kulturschock haben wir hier eine neue Heimat gefunden.» Und dieser Satz soll auch bald offizialisiert werden. Dieses Jahr beantragt die Familie Umur ihre Einbürgerung.