«Dann hungert der eine, während der andere betrunken ist.» Apostel Paulus (* vermutlich vor dem Jahr 10 n. Chr.) weist in seinem «1. Korintherbrief» auf Missstände hin und versucht, zwischen «Starken» und «Schwachen» zu vermitteln.
Paulus von Tarsos gilt als bedeutendster Missionar des Urchristentums. Etwa um 50 n. Chr. hatte er in der rund 70 Kilometer westlich von Athen liegenden Stadt Korinth eine von mehreren christlichen Gemeinden gegründet. Er überliess die Glaubenden danach nicht einfach ihrem Schicksal, sondern stand ihnen als Ansprechpartner zur Seite. Auch betrachtete er es als festen Bestandteil seines apostolischen Dienstes, ein Augenmerk auf das Leben der Christinnen und Christen zu werfen und diese entweder zu ermutigen und zu bestärken – oder auch zu ermahnen und zu korrigieren. Beides, um den konstruktiven Aufbau der Kirche Gottes auf dem in Jesus Christus gelegten und durch ihn vorgeprägten Fundament zu gewährleisten. In Korinth gab es nun reichlich Grund zur Sorge; am meisten Kopfzerbrechen bereitete ihm die dortige Praxis der Eucharistie (Abendmahl). Die sonntäglichen Zusammenkünfte würden es nicht länger verdienen, Eucharistiefeiern genannt zu werden. Paulus argumentierte jesuanisch. Seiner Ansicht nach verliessen die Korinther den gelegten Grund.
Prosperierendes Zentrum
Korinth war reich – expandierender Handel und florierendes Handwerk prägten das Bild. Die Hafenstadt hatte sich zu einem politischen und wirtschaftlichen Zentrum mit römischen, griechischen und orientalischen Bevölkerungsanteilen entwickelt und wies eine kulturelle, religiöse und soziale Vielfalt auf. Allerdings war es um den Ruf der Korinther nicht gut bestellt – sie galten als ausschweifend, genusssüchtig und lasterhaft. Was die aus schätzungsweise um die fünfzig Mitgliedern bestehende christliche Gemeinde anbelangt, spiegelte sich in deren Zusammensetzung die soziologische Vielfalt der Stadt wider. Auch in sozialer Hinsicht war die Gemeinde nicht homogen. Angehörige der unteren sozialen Schicht und wohl auch Unfreie gehören ihr in der Mehrheit ebenso an wie einige Reiche und Mächtige.
Der Apostel sieht das Ganze des Glaubens in Korinth auf dem Spiel stehen.
Die drängendsten Probleme spricht Paulus im auf etwa 55 n. Chr. datierbaren «1. Korintherbrief» an. Als Gründungsapostel will er eingreifen und korrigieren, zugleich vermitteln und werben. Nicht, weil er Gelegenheit sucht zu besserwisserischer Kritik und Gängelei, sondern weil er das Ganze des Glaubens in Korinth auf dem Spiel stehen sieht. Ziemlich weit oben auf der Liste seiner Themen ist, wie gesagt, die Abendmahlspraxis. Es geht um die Feier der Eucharistie. Und es geht um das gemeinschaftliche Zusammensein, das für die Kirche des Anfangs wie selbstverständlich zur sonntäglichen Messfeier hinzugehört.
Abendmahl als Privatmahl
Paulus will keine theologische Lehre vom Abendmahl entwickeln. Aber er meldet Korrekturbedarf an angesichts sozialer und gemeinschaftsschädigender Missstände. Offenbar haben in Korinth wohlhabende Gemeindemitglieder die zur frühkirchlichen Eucharistie hinzugehörende Sättigungsmahlzeit als ihr Privatmahl betrachtet – in der Gestaltung ihrer Zeit waren sie schliesslich frei und dachten nicht daran, Rücksicht zu nehmen auf solche, die nicht Herren ihrer Kalender sein konnten. Statt auf ihre Schwestern und Brüder im Glauben, die als Hausangestellte oder Arbeiter tätig waren, zu warten, langten sie – alsbald sie versammelt waren – reichlich zu, sodass für die anderen Gemeindemitglieder von dem Essen vermutlich nur noch Krümel und Reste übrigblieben.
Es ist eine Haltung der Herzenshärte und des Egoismus, gegen die der Apostel argumentiert. Er sieht die Glaubwürdigkeit der korinthischen Gemeinde bis ins Mark erschüttert und wirft den wohlhabenden Christinnen und Christen vor, ihre eucharistischen Zusammenkünfte seien Zerrbilder, geradezu finstere Karikaturen der von Jesus selbst im Abendmahl grundgelegten vergegenwärtigenden Erinnerung an seine Lebenshingabe zugunsten des Lebens aller Menschen in der Feier jeder Eucharistie. Die Kritik des Apostels wiegt schwer: Im Kern geht es darum, dass die Korintherinnen und Korinther riskieren, die Gemeinschaft mit Jesus aufzugeben und zu verlieren.
Die Feier des Abendmahls ist für Paulus Vergegenwärtigung Jesu und darum zugleich Verkündigung seines Todes und seiner Auferweckung.
Im elften «Brief»-Kapitel nimmt Paulus explizit Bezug auf das Abschiedsmahl Jesu und zitiert den sogenannten Einsetzungsbericht. Die Einspielung dieser Abendmahlstradition soll vor Augen führen, dass der vor-österliche Jesus, der das Zeichen der Eucharistie in der Nacht seiner Auslieferung «gestiftet» hat, zugleich der Urheber der lebendigen eucharistischen Tradition und ebenso der wiederkommende Weltenrichter ist. Die Feier des Abendmahls ist für Paulus Vergegenwärtigung Jesu und darum zugleich Verkündigung seines Todes und seiner Auferweckung. Gemessen daran, widerspricht dies, was die Korinther tun, dem eigentlichen Sinn und Zweck. Denn die Gestalt der kirchlichen Feier muss derjenigen entsprechen, die Jesus selbst eingesetzt und durch Kreuz und Auferweckung inhaltlich bestimmt hat, weil nur auf diese Weise die Gemeinschaft mit ihm gewahrt bleibt.
Die Spitze der lebendigen Erinnerung an Jesu Abschiedsmahl besteht darin, dass Jesus im Brechen und Verteilen des Brotes seine eigene Existenz als eine solche gedeutet hat, die den Mahlteilnehmenden zugutekommt, und den gemeinsamen Kelch als Symbol für die Teilhabe aller an dem durch sein Blut besiegelten Bund bezeichnet hat. Damit sind jesuanische Standards gesetzt, welche die Erinnerungsgemeinschaft der Kirche ihrem Wesen nach konditionieren. Darum ist der apostolische Tadel auch nicht in erster Linie sozialkritisch, sondern identitätsstiftend.
Die umfangreichere Originalfassung dieses Beitrags ist in der «Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie» (67/2020, Heft 1) erschienen.