Raimund Hasse, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisation und Wissen, fragt – Reto Babst, Professor für Medizin, und Guido Schüpfer, Lehrbeauftragter am Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin (GWM), antworten.
Die ärztliche Tätigkeit ist Handwerk, manchmal Kunst, immer aber auch Broterwerb. Relativ gut lässt sich in der Schweiz ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit für einen bestimmten Eingriff und der Dichte der dafür verfügbaren Spezialistinnen und Spezialisten, zum Beispiel in der Wirbelsäulen-Chirurgie, beobachten (siehe hierzu auch www.versorgungsatlas.ch).
Zum einen gibt es Ärztinnen und Ärzte mit eigener Praxis, die in öffentlichen oder privaten Institutionen als sogenannte Belegärzte ohne festes Anstellungsverhältnis tätig sind. Zum anderen gibt es festangestellte Spitalärzte; auch diese können bei Privatpatientinnen und patienten einen Teil der Leistung für sich selbst geltend machen – ein Modell, das im Zuge der öffentlichen Debatte zunehmend kritisch beurteilt wird. In der Schweiz existieren sowohl in öffentlichen wie auch in privaten Versorgungsystemen beide Entschädigungsmodelle in unterschiedlicher Ausprägung. In öffentlichen Spitälern befinden sich die Versorger jedoch grossmehrheitlich in einem unselbstständigen Anstellungsverhältnis, während in privaten Spitälern das Belegarztsystem mit selbstständigem Erwerb vorherrscht. Somit ist es in beiden aufgezeigten Tätigkeitsmodellen möglich, dass finanzielle Anreize zu einer Mengenausweitung respektive zu einer sogenannten Überarztung führen. Die Weltbank hat sich schon vor über dreissig Jahren für eine Begrenzung von Spezialisten und Spezialistinnen und das Verbot einer leistungsorientierten Entlöhnung ausgesprochen. Die politische Umsetzung gestaltet sich in einer freiheitlich orientierten Wirtschaftsordnung allerdings schwierig.
Daher werden durch die Versicherer und medizinischen Fachgesellschaften zunehmend Leitlinien formuliert, um Orientierungshilfe zu bieten, ob vorgeschlagene medizinische Massnahmen die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) erfüllen. Ein funktionierendes Überprüfungssystem stellt dabei die soziale Kontrolle durch Fachkolleginnen und -kollegen dar. Dies ist zum Beispiel in einem akademischen Lehrspital im Rahmen der inner- und überfachlichen Kontrolle durch Weiter- und Fortzubildende institutionell eher gewährleistet als in einer Einzelpraxis mit individueller Qualitätskontrolle. Zudem fördern wissenschaftliche Studien die Qualitätstransparenz solcher Institutionen und deren klinische Studien helfen mit, die WZW-Kriterien weiterzuentwickeln. Die Behandlung von Patientinnen und Patienten in überfachlichen Teams erzeugt eine kritische Hinterfragung der Notwendigkeit von Eingriffen. Beispiel dafür sind «Tumorboards», in denen die zu wählende Therapie im Konsens verschiedener gleichberechtigter Fachspezialistinnen und -spezialisten gefunden wird.
Insofern können Behandlungsunterschiede nicht institutionell (öffentlich vs. privat) verortet werden, sondern sie entstehen eher im Rahmen von unterschiedlichen Qualitätssicherungsmodellen (individuelle vs. institutionelle Qualitäts- und WZW-Kontrolle).