Bei einer die Welt prägenden Figur wie Jesus Christus ist es notwendig, sich mit dieser auch aus judaistischer und aus dialogischer Perspektive zu beschäftigen. Allerdings dauerte es Jahrhunderte, bis dies als legitim erachtet wurde.
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Jesus – ein Jude: Diese Tatsache wurde in der vorherrschenden christlichen und christlich-theologischen Wahrnehmung lange Zeit ausgeblendet. Oder aber es erfolgte eine negative Aufladung. Christologische Ansätze, die Jesus Christus und sein Judesein berücksichtigten, entstanden erst nach der Schoah. Ein solcher dialogischer Anstoss ging 1947 von der Seelisberg-Konferenz im Kanton Uri aus. In der zweiten der hier formulierten zehn Thesen wurde für die christlichen Adressatinnen und Adressaten das Judesein Jesu hervorgehoben. Die Vorarbeit für die Thesen ging vom französischen Historiker Jules Isaac (1877–1963) aus. Ohne seine Anregungen bei einer Privataudienz 1960 bei Papst Johannes XXIII. wäre es wohl nie zur Erklärung «Nostra aetate» gekommen, die eine geradezu kopernikanische Wende im Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum brachte.
Aufklärung als erster Wendepunkt
«Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft geärgert, hat mich Tränen genug gekostet, wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, dass unser Herr ja selbst ein Jude war.» Bereits 1779 liess Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in seinem Theaterstück «Nathan der Weise» den katholischen Klosterbruder Bonafides aussprechen, was die christlichen Theologien nur langsam in den darauffolgenden Jahrhunderten anerkannten: dass Jesus selbst ein Jude war. Bis zur Aufklärung wollten Christen und Christinnen mit dem Juden Jesus nichts oder nur marginal etwas zu tun haben. Im kollektiven christlichen Gedächtnis war er niemand, der sein Judentum lebte, sondern der Christ schlechthin. Dass das westliche Christentum Jesus als Juden (wieder-)entdeckte, war ein Prozess, der mit der Aufklärung begann und sich auch heute christlicherseits weniger bekannten jüdischen Annäherungen verdankt. Damit ist die jüdische Jesusforschung gemeint, die im Kontext von jüdischer Aufklärung, Emanzipation und der «Wissenschaft des Judentums» entstand. Das Judentum diente fortan somit nicht mehr als dunkle Kontrastfolie, um so einen strahlenden Jesus der Christenheit präsentieren zu können.
Im kollektiven christlichen Gedächtnis war Jesus niemand, der sein Judentum lebte, sondern der Christ schlechthin.
Monoperspektivisch lässt sich die universale Bedeutung Jesu nicht erschliessen. Welche Konsequenzen es zunächst hatte, Jesus aus jüdischer Perspektive darzustellen, zeigt das 1879 an der Internationalen Kunstausstellung in München ausgestellte Gemälde «Der zwölfjährige Jesus im Tempel» von Max Liebermann (1847–1935). Das Bild löste einen Skandal aus. Der jüdische Künstler habe den Sohn Gottes «als Judenbengel diffamiert» und den «Heiland verhöhnt», urteilte etwa das «Christliche Kunstblatt». Es folgte ein antisemitischer Sturm der Entrüstung; selbst der bayerische Landtag überlegte, wie man das Zeigen derartiger Werke verhindern könnte. Liebermann notabene war es einzig darum gegangen, eine realistische Darstellung zu erzielen. Nun übermalte er sein Bild und passte es den Konventionen der Mehrheitsgesellschaft an. Aus dem selbstbewussten kräftigen jüdischen Jungen mit Schläfenlocken, der barfuss mit den Gelehrten auf Augenhöhe debattiert, wurde ein liebliches, engelsgleiches Jesuskind mit blonden Haaren, das Sandalen und eine ordentliche weisse Tunika trägt, den Blick in sich gekehrt. Liebermann malte nie wieder Jesus und auch keine weiteren biblischen Sujets.
Schoah als zweiter Wendepunkt
Die christliche Theologie hatte während der Aufklärung aus dem Faktum des Judesein Jesu noch keine christologischen Konsequenzen gezogen. Aus Lessings Figurenrede hätte eine neue Einsicht entstehen können – sie blieb aus. Die zu jener Zeit einsetzende Bibel- und Dogmenkritik führte zu einer Unausgewogenheit, die sich in einer dogmatischen Distanzierung zum irdischen Jesus und damit zu seinem Judesein ausdrückte. Dieses fand damit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keinen Eingang in die Theologie. Erst der Holocaust brachte ein christologisches Umdenken.
Elie Wiesel (1928–2016) formulierte 1976 provokant und für Christinnen und Christen beunruhigend: «Der nachdenkliche Christ weiss, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.» Durch die Verbindung von Dogmatik und Ethik gelang es zuerst dem Berliner Theologen Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002), ein Umdenken auf protestantischer Seite einzuleiten; auf katholischer Seite war es Johann Baptist Metz (1928–2019).
Jüdisch-christlicher Dialog
In der jüdisch-christlichen Verständigung bedurfte es nach dem Zweiten Weltkrieg grosser Anstrengungen. Dass danach der jüdisch-christliche Dialog überhaupt eine Erfolgsgeschichte geworden ist, liegt daran, dass es dialogfähige Menschen wie Jules Isaac und Johannes XXIII. gab, die sich dafür engagierten, die Theologie von Antijudaismus zu befreien und so nach Isaac von einer «Lehre der Verachtung» zu einer «Lehre des Respekts» zu gelangen. Eine dialogische Christologie berücksichtigt die jüdische Jesusforschung und jüdische Gesprächspartnerinnen und -partner. Sie ist antisemitismussensibel, weil sie sich der eigenen antijudaistischen Traditionen der Vergangenheit bewusst bleibt, und versucht damit einen Teil zur Antisemitismusbekämpfung beizutragen. Dies ist seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 wichtiger denn je geworden.
Ausgezeichnete Doktorarbeit
Martin Steiner beschäftigte sich im Rahmen seiner Dissertation mit der Thematik dieses Beitrags. Seine von der inzwischen emeritierten Professorin Verena Lenzen betreute Arbeit wurde mit dem Dissertationspreis der Theologischen Fakultät ausgezeichnet. «Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie» erscheint demnächst in Buchform (Kohlhammer, Stuttgart).