Diktatur, Krieg, Holocaust: Wer an den Nationalsozialismus denkt, denkt wohl kaum zuerst an Glück. Inwiefern Glück aber gerade während dieser Zeit eine Rolle spielte, hat Isabelle Haffter in ihrer Dissertation untersucht – und dabei auch die Schweiz beleuchtet.
Isabelle Haffter, was ist Glück?
Isabelle Haffter: Ich antworte hier aus der Sicht einer Historikerin. Darum würde ich sagen, dass «Glück» in erster Linie ein Quellenbegriff ist, der sich als ein historischer Wissens- und Gefühlsbestand je nach Kontext und Zeit unterscheidet. Ein genau solches zeit- und kontextspezifisches Glücksverständnis untersuchte ich in meiner Forschung. Mein Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1933 bis 1945. Darin führte ich eine transnationale Vergleichsanalyse zwischen NS-Deutschland und der Schweiz durch.
Die NS-Zeit verbinden viele wohl in erster Linie mit dem Zweiten Weltkrieg oder dem Holocaust. Inwiefern passt das mit Glück zusammen?
In der Emotionsgeschichte gibt es einen Forschungsansatz, der sich eben nicht ausschliesslich auf die antisemitische Hetze, die negativen Feindbilder und Gefühlsbeschreibungen (Hass, Neid, Verachtung) – die es auf jeden Fall zu untersuchen gilt – der NS-Propaganda konzentriert. Stattdessen wird der Fokus auf die affirmative Glückspolitik gelegt. Damit ist eine bejahende Gefühlspolitik gemeint, die auf positive Emotionen setzt. Aus dem Geschichtsunterricht n der Schule kennt man vielleicht noch die NS-Propagandastrategie «Kraft durch Freude», die das Ziel hatte, dass die «Volksgenossen» Kraft durch Freude schöpften – als Dienst an der «NS-Volksgemeinschaft». Das ist ein solcher affirmativer, emotional positiv aufgeladener Aspekt der NS-Gefühlspolitik.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Ja, es gab zum Beispiel den sogenannten «NS-Arbeitsdienst» für junge «Volksgenossen». Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich unter anderem das Buch «Hurra, wir zwingen das Glück. Erlebnisse – Gestalten – Bilder aus dem weiblichen Arbeitsdienst» von 1935 aus einer geschlechterhistorischen Perspektive untersucht (siehe Ausschnitt aus dem Cover oben). Es ist die Autobiografie von Julia Tasche, die darin ihren anscheinend glücksevozierenden Einsatz im binär geschlechterstereotypisierten «NS-Arbeitsdienst» beschreibt. Dieses Buch war eine Propagandaschrift. Dahinter verbarg sich die NS-Arbeitsmoral «Kraft durch Freude». Der Dienst an der «Volksgemeinschaft» sollte in den Arbeitsdienstlagern eine kollektivistische Glückserfahrung am eigenen Leib als Körperpraxis erlebbar machen, um die Jugend an die NS-Glücksideologie zu binden.
Sie haben auch Ratgeber und Theaterstücke untersucht. Warum haben Sie diese Zugänge gewählt – und welche Ergebnisse zeigen sich?
Diese Zugänge sind durch meinen Fokus auf die Wissensgeschichte und auf wissenschaftshistorische Forschungsbereiche entstanden. Dadurch habe ich gesehen, dass es einerseits eine Schnittstelle zwischen Arbeitspsychologie und Ratgeberliteratur gibt. Ratgeber sind ein unterschwelliges, populärwissenschaftliches Massenmedium, in dem Glückswissen untersucht werden kann. Spannend dabei ist zum Beispiel, dass in den Ratgeber-Anleitungen zur NS-Zeit explizit versucht wurde, eine antisemitische und binäre Geschlechterordnung im Sinne der NS-Rassen- und Geschlechterpolitik zu vermitteln. Es gab sowohl Männer- als auch Frauenratgeber. Die Männerratgeber waren stereotypisiert auf einen «arischen» und «heroischen» Arbeits- bzw. Soldatentypus ausgerichtet. Bei den Frauen ging es NS-geschlechterpolitisch um die «deutsche Frau», die vor allem kinderreiche Mutter im Sinne der NS-Geburtenpolitik sein sollte, das war eine ihrer zentralen Funktionen im NS-Dienst.
Und wie sieht es bei den Theaterstücken aus?
Neben den Ratgebern habe ich in einem der Teile meiner Dissertation den Fokus auf die Theaterwissenschaft in Verbindung mit Theaterpolitik und -praxis gelegt. Die Theaterpolitik versuchte in Zusammenarbeit mit der Theaterwissenschaft als massenwirksame Propagandastrategie die Bevölkerung mit gemeinschaftsstiftenden Theatererlebnissen für die NS-Ideologie zu gewinnen und zunächst für den Aufbau des NS-Regimes und später für den Kriegseinsatz zu mobilisieren. Historische Theateraufführungen sind deshalb aufschlussreich, weil wir in den Quellen auch die Partizipation von Laienschauspielerinnen und -spielern vorfinden, gerade im Fall von Festspielen. Das heisst, die NS-Gesellschaftsutopie wurde nicht nur auf der Bühne theaterästhetisch aufgeführt, sondern das Publikum wurde als Teil der Inszenierung massenpsychologisch mitkonzipiert. Die Zuschauenden wussten, dass Laien auf der Bühne standen, was ein Identifikationspotenzial darstellte. Das Theatererlebnis diente so ebenfalls im Sinn der affirmativen NS-Gefühlspolitik dazu, «Kraft durch Freude» seitens der Laien und des Publikums zu verbreiten.
Sie haben nicht nur Deutschland während der NS-Zeit angeschaut, sondern den Blick auch auf die Schweiz gelenkt. Was haben Sie untersucht und was hat sich dort gezeigt?
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass während des Zeitraums von 1933 bis 1945 aus der Perspektive der Schweiz eine faschistisch-nationalsozialistische Bedrohung bestand. Vor diesem Hintergrund wurde dann in den 1930er-Jahren die sogenannte «geistige Landesverteidigung» entwickelt. In diesem Rahmen hat unter anderem die Kulturpolitik eine affirmative Gefühlspolitik gegenüber sogenannten «schweizerischen» Werten – also z.B. Demokratie, Souveränität und Neutralität – entwickelt.
Es gab während der Schweizerischen Landessausstellung von 1939 auch Theateraufführungen, mit denen ganz klar ein propagandistisches Ziel verfolgt wurde.
Wurden im Rahmen der «geistigen Landesverteidigung» auch Theaterstücke eingesetzt?
Ja, es gab beispielsweise während der Schweizerischen Landessausstellung von 1939 in Zürich auch Theateraufführungen, mit denen ganz klar ein propagandistisches Ziel verfolgt wurde. Auch hier sollte mittels Theatererlebnissen durch Laienschauspielerinnen und -spieler eine kollektive Gemeinschaftserfahrung zwischen Publikum und den Spielenden erzeugt werden – um sich gemeinsam auf die «schweizerischen» Werte einzuschwören. Das funktionierte, weil beispielsweise Regisseur Oskar Eberle mit «Das eidgenössische Wettspiel» bewusst ein Festspiel inszenierte, das genau diese Werte propagierte.
Das heisst, in der Schweiz wurde die affirmative Glückspolitik verwendet, um die Bevölkerung auf ihre «Wehrhaftigkeit » einzuschwören?
Ja, ich spreche in meiner Dissertation von Mitteln zur Emotionalisierung, Selbstdisziplinierung und Mobilisierung. Die Strategie, wie man mit Glückswissen als Propagandainstrument massenpsychologisch wirken konnte, sollte nicht unterschätzt werden. Von Bundespräsident Philipp Etter wurde die Landesausstellung von 1939 explizit als «geistige Mobilmachung» proklamiert.
Wissen ist Macht, sagt man – ist auch Glückswissen Macht?
Es kommt darauf an, welche Perspektive man einnimmt. Was heisst Macht? Was will man damit erreichen? Im Kontext dieser Trias aus Glück, Wissen und Macht, wie ich es in meinem Buch nenne, denke ich, dass Glück in einem totalitären System wie dem NS-Regime im Rahmen einer affirmativen Emotionspolitik sehr wohl als Propagandastrategie eingesetzt wurde. Ja, mit diesem Fokus, wie ich ihn in meiner Arbeit setze, war Glückswissen ein Machtinstrument.
Sie sind heute am Institut für Theaterwissenschaft in Bern tätig. Gibt es Stränge aus Ihrer Dissertation, die Sie dort weiterverfolgen?
Ja, der wissenschaftshistorische Fokus auf die Theaterwissenschaft, also auf die Fachgeschichte der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, interessiert mich noch immer. Auch die geschlechterhistorische Perspektive auf die Konstruiertheit von binären Geschlechterordnungen und Wirkungsweisen von Geschlecht, Körper und Sexualität aus meiner Doktorarbeit verfolge ich weiterhin.
Isabelle Haffter
Politik der «Glückskulturen». NS-Deutschland und die Schweiz, 1933–1945
de Gruyter, Berlin/Boston 2021
Heinrich Walther und das «Dritte Reich»
Auch in anderen Forschungsarbeiten an der Universität Luzern stehen Themen im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Zentrum. So hat kürzlich etwa Patrick Pfenniger eine von Aram Mattioli, Professor für Geschichte der Neuesten Zeit, betreute Doktorarbeit eingereicht. In dieser geht es um die Frage: Wie dachte Heinrich Walther über das «Dritte Reich» und wie reagierte er auf dessen Politik durch Worte und Taten? Walther (1862–1954) stand von 1894 bis 1937 dem Militär-, Polizei- und Sanitätsdepartement des Kantons Luzern vor und gehörte von 1908 bis 1943 dem Nationalrat an. Als langjähriger Fraktionspräsident der Katholisch-Konservativen (1919– 1940) verfügte er über einen grossen Einfluss.
Unter Einbezug diverser Quellen und der Erforschung des sozialen Umfelds des Luzerner Politikers gelangt Patrick Pfenniger zum Schluss: Obgleich Heinrich Walther den NS-Staat grundsätzlich ablehnte, war sein Verhältnis zu diesem äusserst vielschichtig und von verschiedenen Phasen, Themenbereichen und Interessensphären geprägt. Insgesamt zeichnet sich das Bild eines Politikers ab, der – ausgerüstet mit seinen Prägungen und verankert in seinem spezifischen Umfeld – versuchte, seine Heimat durch aussergewöhnliche Zeiten zu lotsen. Leiten liess sich Walther, wie 1941 in einem Aufsatz selbst postuliert, von den Motiven eines «Sacro Egoismo». Im Fokus dieser «heiligen Selbstsucht» stand die Existenzsicherung einer Schweiz, die damals von rechtskonservativen Männern dominiert wurde und in welcher der politische Katholizismus eine bedeutende Rolle spielte.
Um die NS-Zeit geht es auch im ebenfalls am Historischen Seminar angesiedelten Dissertationsprojekt von Sophie Küsterling. Für die Startphase ihrer Studie mit dem Arbeitstitel «Vergast und Vergessen. ‹T4›-Opfer aus der Schweiz» hat sie eine einjährige Anschubfinanzierung der Graduate School der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät erhalten (Newsmeldung vom Juni 2021). (ds.)