Die Perspektive der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin auf die Gesundheit ist interdisziplinär und ganzheitlich. Was bedeutet das und welche Erkenntnisse ergeben sich daraus bezüglich aktueller Herausforderungen in der Gesundheitspolitik?

David Weisstanner, Assistenzprofessor für Gesundheits- und Sozialpolitik (Bild: Silvan Bucher)

Die Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin (GMF) besteht seit Februar 2023 als eigenständige Fakultät. Ein Hauptziel besteht darin, die Erforschung der individuellen Gesundheitsbedürfnisse mit einer gesellschaftlichen Perspektive zu verknüpfen. Dabei wird untersucht, wie das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem sowie die medizinische Versorgung optimal auf diese Gesundheitsbedürfnisse eingehen können. Interdisziplinäre und interprofessionelle Ansätze geniessen deshalb einen besonderen Stellenwert an der GMF und drücken sich in diversen Schnittstellen und Kooperationen zwischen den Fachbereichen aus. Doch wie genau kann diese Perspektive auch zu neuen Erkenntnissen für die Gesundheitspolitik beitragen und hinsichtlich aktueller gesundheitspolitischer Herausforderungen nutzbringend sein?

Fokus auf Funktionsfähigkeit

Die älter werdende Bevölkerung stellt zusammen mit der steigenden Lebenserwartung eine beträchtliche Herausforderung für unser Gesundheitssystem dar. Das vermehrte Auftreten von chronischen Krankheiten sorgt für einen erhöhten Bedarf an medizinischer Versorgung. Der Fachbereich Rehabilitations- und Funktionsfähigkeitswissenschaften an der GMF argumentiert jedoch, dass vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung der Fokus nicht nur auf Erkrankungen und akutmedizinischer Versorgung im engeren Sinn liegen sollte, sondern dass auch die Funktionsfähigkeit und die gelebte Gesundheitserfahrung der Menschen einer gezielten Förderung bedürfen. Dieses breitere Verständnis von Gesundheit dreht sich um die Frage der Funktionsfähigkeit von Menschen im Kontext ihres physischen (z. B. Barrierefreiheit), sozialen (z. B. familiäre und soziale Unterstützung) und politischen Umfelds (z. B. Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen) sowie um die Frage, wie Verbesserungen für die gelebte Gesundheit im Alltag erzielt werden können. GMF-Forschungsprojekte untersuchen in diesem Zusammenhang, wie die Funktionsfähigkeit durch eine auf Rehabilitation fokussierte Gesundheitsstrategie gestärkt werden kann. Im Zuge einer Resolution der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Mai 2023 ist die Stärkung der Rehabilitation auch auf der globalen Agenda ein prominentes Thema geworden. Nun dreht sich die gesundheitspolitische Herausforderung um die Frage, wie die heutigen Gesundheits- und Sozialsysteme basierend auf diesen neuen Ansätzen transformiert werden könnten.

Fachkräftemangel bekämpfen

Der Fachkräftemangel ist eine zweite allgegenwärtige Herausforderung für das Gesundheitswesen. Der Mangel an qualifiziertem Personal zeigt sich zwar in vielen Branchen, wirkt jedoch im Gesundheitssystem besonders akut. Rasche Lösungen des Problems scheinen nicht in Sicht; stattdessen steht der Dialog und Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem im Vordergrund, um sich auf langfristig wirksame politische Massnahmen gegen den Fachkräftemangel zu einigen und diese umzusetzen. Mit dem «Swiss Learning Health System» (SLHS) stellt die GMF eine Plattform zur Verfügung, welche verschiedene Stakeholder wie Patientinnen und Patienten, Leistungsanbieter, Versicherungen, Forschende und politische Entscheidungsträgerinnen und -träger miteinander vernetzt. Das SLHS fördert dadurch den Informationsfluss und die Integration evidenzbasierter Lösungen bei Herausforderungen wie dem Fachkräftemangel. Konkret hat sich das SLHS etwa im Bereich des Wissenstransfers im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 eingebracht. Zudem betreibt das SLHS selbst Forschung und unterstützt Lernzyklen im Schweizer Gesundheitssystem, wodurch die Entwicklung und Umsetzung von Massnahmen gegen den Fachkräftemangel gezielt gefördert wird.

Bedeutsame Zusammenarbeit

Eine dritte Herausforderung schliesslich ist die Transformation hin zu einer «integrierten Versorgung». Unser Gesundheitssystem ist immer noch stark auf akute Behandlungen, insbesondere im stationären Bereich, ausgerichtet. Vernachlässigt wird dabei oft eine integrierte Versorgungsperspektive, wo Leistungsanbieter und Dienste koordiniert zusammenarbeiten, um eine nahtlose, effiziente und patientenzentrierte Versorgung über alle Behandlungsstufen hinweg zu gewährleisten. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Nachsorge spezifischer Patientengruppen, sprich deren Betreuung und Unterstützung nach einer Behandlung, um deren Gesundheit zu erhalten und zu fördern. Eine Forschungsgruppe der GMF konzentriert sich auf die Verbesserung der Nachsorge und psychosozialen Unterstützung für Überlebende von Kinderkrebs und ihre Familien, um langfristige physische und psychische Folgen der Erkrankung zu mindern. Durch die Untersuchung von spezifischen Bedürfnissen verschiedener Betroffenengruppen und von strukturellen Hürden im Gesundheits- und Sozialversicherungssystem werden massgeschneiderte Unterstützungsangebote für eine umfassende Versorgung entwickelt. Ein weiterer GMF-Bereich erforscht die Nachsorge bei Personen mit Querschnittslähmung: deren Bedürfnisse sowie Zugang, Nutzung und Wirksamkeit von Hilfsmitteln und Gesundheitsdiensten. Mit der Nachsorge als einem zentralen Aspekt einer umfassenden Betreuung liefern diese GMF-Forschungsprojekte wichtige Erkenntnisse für die angestrebten integrierten Versorgungsmodelle.

Viele Herausforderungen

Durch innovative und relevante Forschung will die Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin neue Impulse liefern hinsichtlich der drei genannten grossen gesundheitspolitischen Herausforderungen: der alternden Gesellschaft, des Fachkräftemangels und der integrierten Versorgung. Tatsächlich scheint die Zeit reif, und zahlreiche Akteure im Gesundheitswesen erkennen einen Handlungsbedarf – denn das Schweizer Gesundheitssystem krankt. Die Spitäler kämpfen mit Unterfinanzierung, bei den Medikamenten ist von Versorgungsengpässen die Rede. Das anscheinend ungebremste Wachstum der Gesundheitskosten führt zu wenig produktiven Diskussionen, die einseitig auf den Kostenaspekt fokussieren und von ideologischen Grabenkämpfen befeuert werden. Und die gesundheitliche Chancengleichheit leidet – auch in der Schweiz bestehen beträchtliche Unterschiede, was den Gesundheitszustand je nach Einkommen, Bildung, Wohnort, Geschlecht oder Nationalität einer Person betrifft.

Zeit für Paradigmenwechsel

Natürlich lassen sich Reformen im Gesundheitswesen nicht von heute auf morgen umsetzen. In der fragmentierten Schweizer Gesundheitspolitik sind die Fronten zwischen den zahlreichen Interessengruppen verhärtet. Auch die Tendenz zum «Silo-Denken», also die isolierte Betrachtungsweise einzelner Politik- und Verwaltungsbereiche (z.B. Gesundheitspolitik, Sozialversicherungen, Bildungspolitik), ist schwierig zu durchbrechen, wenn etablierte Interessen auf dem Spiel stehen. Es braucht also einen langen Atem, oder, um mit einer Denkfigur des Soziologen Max Weber (1864–1920) zu sprechen, ein «langsames Bohren von harten Brettern». So oder so ist jetzt der Augenblick für einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik gekommen angesichts der grossen Herausforderungen, mit denen sich das Gesundheitswesen konfrontiert sieht. Mit der einzigartigen Schnittstelle zwischen der Medizin und den verschiedenen Perspektiven der Gesundheitswissenschaften (Politikwissenschaft, Ökonomie, Kommunikation, Psychologie usw.) liefert die GMF neue Impulse für langfristig wirksame Ideen in der Gesundheitspolitik.
 

Der Beitrag ist im Jahresbericht 2023 der Universität Luzern erschienen.

David Weisstanner

Assistenzprofessor für Gesundheits- und Sozialpolitik
unilu.ch/david-weisstanner