Frauen und Männer sind unterschiedlich: Dies erhält in der Medizin oft zu wenig Beachtung – mit teils massiven Folgen. Neu werden angehende Ärztinnen und Ärzte an der Universität Luzern für die Thematik sensibilisiert und dafür befähigt.
Tanja Volm, Sie sind Kursleiterin des Moduls «Gender-Medizin» – erzählen Sie mehr.
Tanja Volm: Dieses Wahlpflichtmodul können Studierende des «Joint Medical Master» der Universitäten Luzern und Zürich seit dem Herbstsemester 2022 im sechsten Studienjahr besuchen. Es handelt sich um ein Pilotprojekt, das von swissuniversities, der Dachorganisation der Schweizer Hochschulen, gefördert wird.
Was wird damit angestrebt?
Ziel ist es zum einen, Diversität, Chancengleichheit und Inklusion zu festen Bestandteilen im Master zu machen. Zum anderen geht es darum, eine Brücke zwischen verschiedenen Professionen im Gesundheitswesen sowie zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung zu schlagen. Das Wahlpflichtmodul findet in einer Mischform aus Vorlesungen und interaktiven Veranstaltungen am Lehrspital Hirslanden Klinik St. Anna statt.
Worum handelt es sich bei Gender-Medizin denn überhaupt?
Die Gender-Medizin setzt sich dafür ein, dass jeder Mensch, gerade in Bezug auf sein Geschlecht, individuell untersucht wird und dann entschieden wird, was dieser Mensch braucht. Die Tatsache, ob man Mann oder Frau ist, ist entscheidend dafür, was man als Medizin bekommt oder auch, wie sich eine Krankheit äussert.
Ein konkretes Beispiel?
Der Herzinfarkt. Unsere Gesellschaft ist – warum auch immer – der festen Überzeugung, dass der Herzinfarkt eine Männerkrankheit ist. Der berufstätige Mann, der zu wenig schläft, zu viel arbeitet und zu viel raucht. Folglich werden typische Symptome vom männlichen Krankheitsbild abgeleitet: Brustschmerzen, die bis in den linken Arm ausstrahlen. Erleiden Frauen einen Herzinfarkt, äussert er sich eher durch Bauchschmerzen und allgemeines Unwohlsein. Gerade weil der Fokus aber so stark auf dem männlichen Krankheitsbild liegt, werden Herzinfarkte bei Frauen oft spät entdeckt.
Es lässt sich belegen, dass Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt sterben als Männer.
Manchmal gar zu spät?
Durchaus. Es lässt sich belegen, dass Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt sterben als Männer. Sowohl die Diagnostik wie auch die Therapie ist auf den Mann ausgerichtet. Nebst dem Herzinfarkt ist im Übrigen ADHS ein weiteres typisches Beispiel – das «Zappelphilipp-Syndrom» gilt nach wie vor als «Jungs-Krankheit» und bleibt bei Mädchen sehr oft unerkannt, weil sie nicht mit den typischen Jungs-Symptomen reagieren.
Will Gender-Medizin demnach in erster Linie die Frauenmedizin fördern?
Nein, Gender-Medizin sensibilisiert auf geschlechterspezifische Unterschiede in der Medizin und hilft allen Geschlechtern. Wo beim Herzinfarkt die Frauen im Nachteil sind, ist es bei der Depression genau andersrum: Sie gilt in unserer Gesellschaft irrtümlicherweise als Frauenkrankheit, obwohl Männer genauso häufig an schweren Depressionen erkranken wie Frauen. Die fatalen Folgen: Bei Männern bleibt die Depression oft lange, manchmal gar komplett unentdeckt. Sich selbst das Leben zu nehmen, ist in der Schweiz bei Männern eine der häufigsten Todesursachen.
Wo muss man ansetzen?
Die Problematik ist komplex: Die Medizin ist eine Wissenschaft, die sehr stark dadurch beeinflusst ist, was die Gesellschaft gerade glaubt oder welche sozialen Konstruktionen von Geschlecht gerade vorherrschend sind. Momentan ist das Bild des starken Mannes noch immer sehr verbreitet. So fällt es den Männern schwerer, sich selbst depressive Symptome einzugestehen und einen Arzt, eine Ärztin aufzusuchen. Tut er es, so kann es sein, dass hier die Depression nicht diagnostiziert wird, weil weniger Wissen bezüglich des männlichen Krankheitsbilds besteht und die Krankheit unterbewusst mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird.
Nebst der Diagnostik ist auch die Therapie stark geschlechterabhängig. Oft werden Medikamente aber nur an männlichen Probanden getestet. Warum?
Es ist schwieriger, klinische Studien mit weiblichen Probandinnen durchzuführen. Einerseits aufgrund ihrer hormonellen Schwankungen, andererseits aufgrund möglicher Schwangerschaften. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, bei klinischen Studien beide Geschlechter einzubinden, wenn die Therapie für beide Geschlechter eingesetzt werden soll.
In den USA ist seit 1993 gesetzlich festgehalten, dass Frauen in klinischen Studien miteingebunden werden. Inwiefern achten Schweizer Forschende darauf?
Es werden kaum noch neue Studien gestartet, ohne dass sich Forschende intensiv damit beschäftigen. Man will sich den Schwierigkeiten stellen und weibliche Probandinnen einbinden. Genauso tut man dies schliesslich auch bei Kindern: Auch wenn Studien mit Kindern gerade aus ethischen Gründen heikel sind, weil sie sich ja nicht selber dafür entscheiden können, werden sie durchgeführt, weil wir sonst keine Medikamente für Kinder zulassen können. Man muss sich den Schwierigkeiten stellen.
Wenn ich als Frau ein Schmerzmittel einnehmen muss, dann nehme ich eine Tablette. Mein Bruder zwei, er ist um einiges schwerer. Unser Geschlecht scheint dabei keinen Unterschied zu machen. Problematisch?
Frauen einfach als «kleine Männer» anzuschauen ist problematisch, ja. Dieser Fehler wird oft begangen, weil frühere Studien vorwiegend mit Männern gemacht wurden und davon eben auch die Dosierungen je nach Gewicht abgeleitet wurden. Dann hat man das einfach auf die Frauen runtergebrochen. Frauen verstoffwechseln Medikamente aber anders, und je nachdem wirken Medikamente bei ihnen länger oder kürzer. Schaut man nur aufs Gewicht, kann es bei Frauen zu Über- oder Unterdosierungen kommen. Es gibt auch Schmerzmittel, die bei Frauen weniger wirksam sind als bei Männern.
Zurück zum Lehrangebot «Gender-Medizin» an der Universität Luzern: Wie fällt eine erste Bilanz aus?
Die Erarbeitung des Moduls haben wir als anspruchsvoll, aber auch als sehr bereichernd empfunden. Dies vor allem, da es sich auch national um ein recht neues Thema in der studentischen Lehre von künftigen Ärztinnen und Ärzte handelt. Wir haben versucht, einen breiten thematischen Bogen zu spannen und dürfen erleben, dass die Studierenden mit grossem Interesse bereit sind, sich auf das Thema einzulassen.
Und wie geht es weiter?
Das Modul «Gender-Medizin» soll voraussichtlich ab Herbst 2024 als Plichtveranstaltung ein obligatorischer Teil des Studiums werden, sodass alle Studierenden der Medizin im Laufe ihres Studiums das Programm absolvieren und damit eine nachhaltige Wirkung der Lerninhalte gewährleistet ist. Ausserdem werden wir Module für Gender-Medizin auch in den Studiengängen der Gesundheitswissenschaften anbieten.
Dr. Tanja Volm ist Kursleiterin des Moduls «Gender-Medizin» im «Joint Medical Master» und Geschäftsführerin am Hirslanden Institute for Medical Education (HIMED).
Das Interview war von der Journalistin Livia Barmettler im Auftrag von «PilatusToday» geführt und am 24. Januar 2023 auf dieser News-Plattform publiziert worden. Zweitabdruck mit freundlicher Genehmigung. Die ersten und die letzten beiden Fragen wurden ergänzt; gestellt hat diese Oliver Rölli, Verantwortlicher Kommunikation, Wissenstransfer und Marketing an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin.