Was haben soziale Ungleichheiten mit Gefühlen zu tun? Philosoph Martin Hartmann geht diesen unterschätzten Einflüssen nach – und schärft den Blick dafür, wie unser Innerstes mit sozialen, kulturellen und normativen Rahmenbedingungen verquickt ist.
Martin Hartmann, soziale Ungleichheiten werden oft unter quantitativen Aspekten analysiert. Was versprechen Sie sich von Ihrem in Ihrem neuen Buch «The Feeling of Inequality» (siehe unten) verfolgten Zugang, bei dem Empathie und Gefühle eine zentrale Rolle spielen?
Martin Hartmann: Ich frage, was genau die Ungleichheit mit unserem Vorstellungs- und Empathievermögen macht und warum Empathieklüfte problematisch sind. Indem ich dies tue, werden wenig beachtete Dimensionen der sozialen Ungleichheit sichtbar. Ungleichheit bestimmt nämlich nicht nur mit, was wir wollen, sondern auch, ob und wie wir uns in andere einfühlen können. Der Einfluss der Gefühle geht so weit, dass sich die gefühlte Ungleichheit gegenüber der objektiv messbaren Ungleichheit durchsetzen kann und so neue Realitäten konstruiert werden.
Können Sie hierfür ein konkretes Beispiel nennen?
Finanziell sehr gut gestellte Menschen tendieren beispielsweise dazu, sich der Mittelschicht zuzuordnen und die eigenen Privilegien auszublenden, während Menschen, die objektiv gesehen nicht arm sind, sich trotzdem arm fühlen. Diese bedeutsame Relationalität der Gefühle hat in Gleichheitstheorien bislang erst geringe Aufmerksamkeit erhalten. Relational heisst dabei: Gefühle haben oft einen vergleichenden Charakter, sie beziehen meine Lage auf die Lage anderer, grenzen sich ab oder schaffen Zugehörigkeit.
Aber gerade der Begriff der Empathie ist doch überstrapaziert?
Ich betrachte Empathie nicht als ein moralisches Gefühl, sondern als psychologischen Mechanismus, der Gefühle transportiert. So gesehen ist Empathie nicht zwangsläufig mit einer positiven Haltung verbunden. Wenn Armutsbetroffene verachtet werden, hat das tatsächlich mit Empathie zu tun: Sie registriert oder verarbeitet die sozialen Distanzen und übersetzt sie in spezifische Gefühle. Diese Gefühle haben nie nur eine subjektive Dimension, sondern sind auch mit Werthaltungen verbunden, die stark kulturell kodiert sind. So geht mit der Verachtung oft die Ansicht einher, dass Armutsbetroffene an ihrer Situation selbst schuld sind und sich nicht genug angestrengt hätten.
Moralphilosophen wie Adam Smith oder David Hume waren prägend in der Vorstellung, wie Empathie den sozialen Bereich konstituiert oder der menschlichen Moral zugrunde liegt. Die beiden nehmen auch in Ihren Analysen eine zentrale Stellung ein.
Das liegt auch daran, dass sie in ihrer Konzeption von Empathie – in der damaligen Zeit im 18. Jahrhundert behandelten sie dieses Phänomen unter dem Begriff der «Sympathie» – viel stärker als andere ein Bewusstsein für die Rolle der Vorstellungskraft entwickelt haben. Denn die Vorstellungskraft ist eine wichtige Voraussetzung, um eine Situation überhaupt verändern zu wollen. Dies aber wird in der zeitgenössischen Moralphilosophie und in der Ungleichheitsforschung bis heute zu wenig berücksichtigt.
Letztlich geht es darum, die Vormachtstellung der rein ökonomischen Sichtweise zu brechen, welche die ganze Ungleichheitsdebatte dominiert.
Aber spielen für diesen Prozess, Veränderungen anzustossen, nicht auch vorherrschende Ideologien als Bremse mit hinein?
Ideologien spielen sicherlich eine Rolle, aber mein Ansatz, die qualitativen Dimensionen von Ungleichheiten zu untersuchen, ist vor allem sozialpsychologisch motiviert, ich möchte keine Ideologie-Theorie entwickeln. Ich habe zweifellos einen normativen Hintergrund. Mein Menschenbild ist geprägt von der Thematik der Relationalität und relationaler Macht: In den Leistungen steckt nie so viel Individuum, wie es oft dargestellt wird, vielmehr hängen diese Leistungen von zahlreichen anderen Einflüssen und Faktoren ab. Aber mein Werk enthält keine marxistischen Theorien, sondern ist sozialpsychologisch und machttheoretisch orientiert. So knüpfe ich an literarische Schilderungen an, in welche die Klassenfrage zunehmend wieder Eingang findet, zum Beispiel bei der deutschen Schriftstellerin Anke Stelling. Letztlich geht es darum, die Hegemonie – also die Vormachtstellung – der rein ökonomischen Sichtweise zu brechen, welche die ganze Ungleichheitsdebatte dominiert.
Gerade die Literatur ist ein gutes Beispiel für die Macht der Vorstellungskraft. Imagination und Ungleichheit – wie bildet diese Verquickung neue Realitäten?
Der 2020 verstorbene Anthropologe David Graeber spricht von «Fantasiearbeit» als Element ungleicher Machtverhältnisse, was ich sehr hilfreich finde: Menschen, die weniger privilegiert sind, müssen oft sehr viel mehr Vorstellungsarbeit leisten als jene in besseren Positionen. Sich nicht vorstellen zu müssen, wie es ist, keine Privilegien und keinen Status zu haben, ist eine Form von Macht. Die weniger Privilegierten wiederum bringen viel psychische Energie auf, um die genauen Auswirkungen der Anweisungen ihrer Vorgesetzten, ihrer Empfehlungen oder ihrer scheinbar unverfänglichen Aussagen zu verstehen. Die soziale Ungleichheit manifestiert sich also auch darin, wer in welcher Form diese Interpretationsarbeit leisten muss.
Mit Ihrem Ansatz machen Sie sozusagen unsichtbare emotionale Strukturen sichtbar, die sich direkt aus Macht- und Ungleichheitsverhältnissen ableiten lassen.
Genau. Ich möchte damit den Diskurs über Ungleichheiten um wichtige Dimensionen anreichern. In einer Gesellschaft, die Ungleichheiten goutiert, sollten auch die Einflüsse von Gefühlen und der Vorstellungskraft reflektiert werden. Aber in der Regel richten sich alle Blicke auf die quantifizierbaren Aspekte. Ich gebe mit meiner Analyse wohlgemerkt keine Anweisung, wie sich Ungleichheiten reduzieren liessen. Aber ich schärfe den Blick für die verschiedenen Zusammenhänge und Wechselwirkungen auf der Gefühlsebene. Begriff wie «Gefühl» oder «Empathie» sollten allerdings nicht auf eine falsche Spur führen: Mein Buch richtet sich an ein Fachpublikum. Das Buch dürfte nicht ganz so leicht zu lesen sein, es ist leider auch sehr teuer, im Gegensatz zu meiner früheren Publikation «Vertrauen – die unsichtbare Macht».
Gerade in Bezug auf die Begrifflichkeiten gibt es spannende Parallelen. So haben Sie bereits in Ihrem Werk über Vertrauen dafür plädiert, den Begriff nicht per se als etwas Gutes zu betrachten. Den gleichen Zugang haben Sie zur Empathie. Und in Ihrem neuen Buch geht es auch um Neid, wo Sie die Begrifflichkeit ebenfalls gegen den Strich lesen: Ihre Analyse liest sich zeitweise als Plädoyer dafür, Neidgefühle nicht per se als negativ konnotiert zu interpretieren.
Es ist ohne Zweifel so, dass Gefühle wie Neid oder Eifersucht für das Individuum sehr unangenehm sind. Wir sind nun mal vergleichende Wesen. Neid gilt in unserer Gesellschaft aber nicht nur als eine der Todsünden, er wird oft auch in Verbindung gebracht mit den Forderungen nach Umverteilung des Reichtums. Im Sinne von: Wer materielle Ungleichheiten kritisiert, ist am Ende nur neidisch. Neid ist regelrecht eine kulturell verteufelte Kategorie. Mit der Verunglimpfung des Neids wird aber auch der Vergleich verunglimpft – und somit der Prozess, der soziale Distanz in Gefühle übersetzt. Das wiederum verschleiert die Tatsache, dass alle Beziehungen interdependent und komplementär sind, und verhindert die Analyse, wie sich soziale Ungleichheiten wechselseitig auswirken.
Zu diesen Ungleichheiten gehört letztlich auch die ungleiche Verteilung an sozialer Wertschätzung?
Ja, die Leute wissen, dass ungleiche materielle Verhältnisse mit einem Mehr oder Weniger an sozialer Anerkennung einhergehen und eine entscheidende Dimension in der sozialen Verortung sind. Aber in den oberen Schichten ist die Denkweise sehr verbreitet, es aus eigener Kraft in eine bestimmte Position geschafft zu haben. Die Vorstellung, Privilegien aus eigenen Stücken erreicht zu haben, ist allerdings oft eine Illusion. Sich zu vergegenwärtigen, dass auch Emotionen immer relational sind, hilft, diese Zusammenhänge nie zu vergessen.
Was auf individueller Ebene gilt, gilt auch auf kollektiver Ebene?
Ja, und gerade auf kollektiver Ebene fällt es schwer, diese Zusammenhänge einzugestehen. Die Schweiz zum Beispiel hat sich ihren Reichtum nicht einfach selbst erarbeitet, sie war beispielsweise auch eine Profiteurin des Sklavenhandels und ist es noch immer in Bezug auf Rohstoffmärkte. Aber es fällt der Gesellschaft unheimlich schwer, solche Interdependenzen anzuerkennen. Obwohl wir doch wissen, dass wir gewisse Produkte nur deshalb im Regal vorfinden, weil sie von schlecht bezahlten Arbeitskräften an der Elfenbeinküste oder anderen Gegenden in der südlichen Hemisphäre erwirtschaftet wurden, in denen die Armut – auch absolut betrachtet – weit verbreitet ist. Hier zeigt sich, wie sich Privilegierte oft Strukturen schaffen, welche die Empathie unter den Privilegierten selbst erleichtert.
Es fällt einer Gesellschaft bis heute einfacher, sich mit der Täterschaft zu identifizieren statt mit Opfern.
Können Sie für dieses Phänomen ein weiteres Beispiel nennen?
Nehmen wir einen der Vergewaltigungsfälle an einem College in Missoula (USA), der vom Reporter Jon Krakauer in einem Buch aufgearbeitet worden ist. Ein Freund des Angeklagten wollte darlegen, dass das Leben des Angeklagten ruiniert wird, wenn dieser verurteilt wird. Hier ist die Empathie also sehr selektiv und von Freundschaftsbanden geprägt. Er wurde dann gefragt, ob er seine Haltung ändern würde, wenn es seine Tochter gewesen wäre, die sexueller Gewalt ausgesetzt war. Der Freund fand, dass Äpfel mit Birnen verglichen würden, es handle sich ja nicht tatsächlich um seine Tochter. Hier treten Empathieklüfte zutage, die auch in meinem Buch eine grosse Rolle spielen. Es fällt einer Gesellschaft bis heute einfacher, sich mit der Täterschaft zu identifizieren statt mit Opfern. Empathie kann sehr selektiv und exkludierend sein, und die Relationalität ist offensichtlich: In vermeintlich individuellen Gefühlen und Werthaltungen manifestieren sich in Tat und Wahrheit patriarchale Gewaltstrukturen.
Sie haben die familiäre Bande erwähnt, die eine selektive Wahrnehmung befördert. Wie lautet Ihre Schlussfolgerung in Bezug auf soziale Ungleichheiten?
Wenn soziale Ungleichheiten schlicht zu gross sind und eine Gesellschaft stark schichtspezifisch strukturiert ist, begünstigt dies auch Empathieklüfte. Wenn man Menschen aus anderen Schichten nie begegnet, wenn man nie mit einer wohnungslosen Person zu tun hat, wie soll man sich überhaupt vorstellen können, wie es ist, so zu leben? Moralische Distanz kann sich auch materiell verdichten, zum Beispiel in Form der Gentrifizierung, der Verdrängung Einkommensschwächerer aus bestimmten Quartieren, oder «Gated Communities», also geschlossenen Wohnanlagen mit
Zugangsbeschränkungen. Darum ist es so wichtig, dass wir in der Lage sind, uns Geschichten, nicht ganze Identitäten, anzueignen und emotional an der Geschichte des Anderen teilzuhaben. Und wir brauchen die Vorstellungskraft, um Veränderungen anzustossen oder Mitgefühl für andere zu entwickeln. Der politische Theoretiker Pierre Rosanvallon spricht in diesem Zusammenhang von «imaginärer Gleichheit».
Auch wenn Sie die Empathie in Ihrem Buch von der moralischen Last des Guten befreien, darf durchaus noch etwas Hoffnung in die Kraft der Empathie gesetzt werden?
Bei aller Problematisierung, die ich in meiner demokratietheoretischen Arbeit vornehme, ist Empathie im positiven Sinn immer auch ein Weg zum Anderen hin, zur anderen Schicht, zur anderen Lage, zum anderen Geschlecht, zur anderen Ethnie etc. Ein immer wieder neu kultiviertes Empathievermögen ist für unsere Gesellschaft eminent wichtig, um Probleme zu lösen und unsere moralischen Sensibilitäten auszudehnen. Wenn wir uns als Wesen in einer Welt begreifen, in der alle mit gewissen Sorgen und Nöten konfrontiert sind, ist schon viel gewonnen. Wir brauchen als Gesellschaft eine Basis, auf der wir alle auf erfahrbare Weise gleich sind, als moralisch gleichberechtigt anerkannte Wesen.
Martin Hartmann
The Feeling of Inequality. On Empathy, Empathy Gulfs, and the Political Psychology of Democracy
Oxford University Press, Oxford 2023
Ungleichheit im Visier
Mit Aspekten der Ungleichheit befassten und befassen sich diverse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Luzern in Forschung und Lehre: So gehen beispielsweise in einer im kommenden Herbstsemester durchgeführten Lehrveranstaltung die beiden Rechtsprofessoren Vagias Karavas und Michele Luminati mit ihren Studierenden der Frage nach, welchen Beitrag das Recht zur Förderung der Ungleichheit in der Welt leistet. Dies unter anderem vor dem Hintergrund der verschiedentlich geäusserten Kritik, der zufolge das Recht nicht nur einen Garanten für Gleichheit darstellt, sondern gleichzeitig verantwortlich für den Kapitalismus in seiner heutigen Form ist, der wiederum zu Ungleichheit in der Gesellschaft führt.
Geschichte der Obdachlosigkeit
Britta-Marie Schenk, Assistenzprofessorin für Geschichte mit Schwerpunkt Neueste Zeit, forscht und lehrt zur Geschichte sozialer Ungleichheit mit einem Schwerpunkt auf Randgruppen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert; unter anderem in ihrem Habilitationsprojekt steht die Geschichte der Obdachlosigkeit im Zentrum. Und neben Geschichtsprofessor Daniel Speich Chassé (siehe Beitrag in diesem «Fokus») hat sich Oberassistent Philippe Saner, nunmehr aus soziologischer Warte, im vergangenen Frühjahrssemester in einem Seminar Ungleichheit und Technologie zum Thema gemacht: «Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass digitale Technologien wie das Internet alle Menschen gleich machen, untersuchten wir verschiedene Phänomene, in denen das Zusammenspiel von digitalen Technologien und Gesellschaft Machtverhältnisse und Ungleichheiten herstellt bzw. bestehende reproduziert», so Saner. Mit «Violence – Protest – Inequality from an Ethical Perspective» (TVZ, Zürich) erscheint demnächst ein Buch von Peter G. Kirchschläger, Professor für Theologische Ethik, zum Zusammenhang von wachsender Ungleichheit und politischem Protest aus ethischer Sicht.
Mehrfach zu Facetten der Ungleichheit publiziert hat Christoph A. Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie. Am unter seiner Leitung stehenden «Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern» wurde letztes Jahr die «Swiss Inequality Database» lanciert. Das online frei zugängliche Tool zeigt die Entwicklung der Einkommensverteilung seit 1917. So ist etwa recherchierbar, wie das Steueraufkommen in der Schweiz verteilt ist oder ab welchem Einkommen man zu den obersten Einkommensgruppen zählt.