Der indigene Widerstand in den USA wurde bis anhin als reine «Männersache» wahrgenommen. Die Historikerin Rachel Huber zeigt auf, dass dieser Eindruck täuscht. Die Beweise dafür fand sie auf Facebook, Instagram und Twitter.

Rachel Huber, promovierte Geschichtswissenschaftlerin (Bild: Silvan Bucher)

Rachel Huber, der Widerstand der indigenen Bevölkerung in den USA der 1960er- und 1970er-Jahre wird «Red Power» genannt. Was hat Sie dazu inspiriert, die Rolle der Frauen darin zu untersuchen?

Rachel Huber: Mein Interesse wurde im Rahmen meines Masterabschlusses geweckt, bei dem eines der Prüfungsthemen Red Power war. Während der Vorbereitungen fand ich in der Standardliteratur sehr wenig über Frauen – und wunderte mich darüber, denn zu jener Zeit waren schon so viele Sozialbewegungen und auch die Frauenbewegung im Gange. Warum sollten ausgerechnet bei der Red-Power-Bewegung keine Frauen dabei gewesen sein?

Und hier knüpften Sie in Ihrem Dissertationsprojekt an …

Ja, ich suchte zunächst nach analogen Spuren, nach irgendeinem «Faden», an dem ich ziehen konnte. Das war eher schwierig. Es gab vereinzelte Doktorarbeiten und wenige Aufsätze, welche Frauen nannten, meist mit ein paar biografischen Angaben. Dadurch wurde immerhin deutlich, dass viele Frauen dabei gewesen sein mussten. Deshalb verlegte ich meine Recherchen ins Internet und stellte fest, dass einige Zeitzeuginnen noch leben und diese auf den sozialen Medien sehr aktiv sind, wo sie Fotos von damals hochladen, teilen und kommentieren.

Frauen waren sehr wohl Anführerinnen.
Rachel Huber

Ihre Doktorarbeit wurde im Frühling 2023 als Buch publiziert – was sind die Hauptbefunde?

Hierzu muss ich ein wenig ausholen: Als Red-Power-Hauptfigur wurde bislang ein Mann mit dem Namen Russell Means (1939–2012) erachtet, ein Lakota. Dieser hatte gemeinsam mit Freunden die bekannteste Red-Power-Organisation, das «American Indian Movement», gegründet und auch eine Autobiografie verfasst. Diese ist in den Grundzügen sexistisch: Means schreibt in verschiedenen Variationen immer wieder, dass Frauen im Hintergrund geblieben seien, weil sie verstanden hätten, was die angeblich natürliche Balance zwischen den Geschlechtern sei. Er verortet Frauen in Küche und Pflege – nicht an der Widerstandsfront, die von Waffengewalt begleitet wird.

Aber …

Frauen waren, wie ich herausfand, sehr wohl Anführerinnen. Man kann das zum Beispiel an Ramona Bennett (*1938) sehen, die von 1973 bis 1978 «Tribal Chairwoman» der Puyallup im Pazifischen Nordwesten war. In dieser Funktion hat sie einige Aktionen strategisch konzipiert, organisiert und diese allein oder mit anderen durchgeführt. Eine dieser Aktionen führte 1976 in Tacoma, Washington, dazu, dass sie für ihre Gemeinschaft vom Staat ein Stück Land zurückgewinnen konnte. Dieses hätte ihnen vertraglich zugestanden, wurde aber vom Staat vertragswidrig in Anspruch genommen, sprich: den Indigenen weggenommen. Für diese Vertragsrechte und deren Einhaltung zu kämpfen war das grosse Ziel der Red-Power-Bewegung – allerdings in den wenigsten Fällen mit Erfolg. Doch Ramona Bennett hat es geschafft.

Für welche weiteren Themen setzten sich Frauen ein?

Sie wehrten sich zum Beispiel gegen die Adoptionspraxis der US-amerikanischen Behörden, die dazu führte, dass Anfang der 1970er-Jahre bis zu 30 Prozent aller indigenen Kinder ihren Familien weggenommen und in nichtindigene Kontexte platziert wurden. Im indigenen Diskurs wird von einem sozialen Genozid gesprochen. Es waren unter anderem viele Aktivistinnen, die erreichten, dass 1978 ein pro-indigenes Gesetz verabschiedet wurde, der «American Indian Child Welfare Act». Dieser bestimmte, dass indigene Kinder nur noch von indigenen Familien adoptiert, also nicht vollkommen von ihrer Kultur separiert werden dürfen. Weiter eröffneten die Aktivistinnen sogenannte «Survival Schools» eigens für indigene Kinder, weil diese in öffentlichen Schulen rassistisch diskriminiert wurden und es darum hohe Abbruchsquoten und in der Folge keine Berufschancen gab. Und sie nahmen den Kampf gegen Zwangssterilisationen auf, welche die US-Behörde in dieser Zeit an Women of Color durchführte. Bis zu 25 Prozent der indigenen Frauen fielen solchen zum Opfer. Die Frauen haben also ganz existenzielle Themen vorangetrieben.

Die Frauen haben also ganz existenzielle Themen vorangetrieben.
Rachel Huber

Warum blieben diese Frauen bisher weitgehend unsichtbar?

Ein Faktor stellt die Diskriminierung in der Zeit selbst dar. Die Medien, vornehmlich männlich dominiert, legten den Fokus vor allem auf die männlichen Aktivisten und stilisierten diese sehr oft zu Anführern empor. Gerade auch, weil jene mit Insignien wie Federn, langem Haar und traditioneller Bekleidung auftraten. Dies, obwohl viele Indigene damals eigentlich bereits sehr assimiliert waren und auch zeitgenössische Mode trugen. Die Red-Power-Männer haben sich sicherlich bewusst althergebracht gekleidet, um so ein gutes Sujet für die Medien abzugeben. So entstand eine hohe Präsenz in den klassischen Quellen.

Die nachfolgende Forschung nutzte diese und legte den Schwerpunkt ebenfalls auf die Männer. Diese selbst fühlten sich berufen, Autobiografien zu schreiben – die Frauen eher nicht, weil sie aufgrund ihres fortdauernden Graswurzel-Aktivismus, mit dem sie bis heute gegen soziale Missstände in ihren eigenen Gemeinschaften ankämpfen, keine Zeit hatten –, welche wiederum zu wichtigen Quellen avancierten. Weiter war die Geschichtsschreibung bis in die 1980er-Jahre hinein männlich dominiert. Der wissenschaftliche Wille, die Frauengeschichte sichtbar zu machen, fehlte schlichtweg. Dies, obwohl in den Archiven durchaus Quellen über Frauen existieren, wie meine Forschung zeigt.

Sie haben auch Social Media als Quelle benutzt …

Ja, ich hatte die Aktivistinnen von damals auf Facebook, Instagram und Twitter gefunden und sie so auch kontaktiert und Interviewtermine vereinbart. Die Gespräche selbst wurden dann vor Ort in den USA geführt. Gleichzeitig verwendete ich Posts dieser Frauen als Quellen. So luden diese zum Beispiel Fotos von damals aus ihrem Privatarchiv hoch, auf denen sie selbst zu sehen waren: bei einer Aktion, teils mit einer Waffe in der Hand, teils während sie von Polizisten in Handschellen abgeführt werden, teils im Gespräch mit Polizisten. Dazu schrieben sie natürlich viel, das gab den Kontext. Ob man nun solche Posts oder klassische Quellen wie Dokumente aus Archiven nutzt: Die Grundsätze der Quellenkritik bleiben mit einigen digitalen Erweiterungen dieselben.

Inwiefern war Ihr Ansatz ein Novum?

Man spricht bei diesen Posts von so genannten Born-digital-Quellen, also Quellen, die im Digitalen entstanden sind. Analog gab es diese gar nie. Dieser Ansatz war und ist neu, in der Geschichtswissenschaft wird dieser noch immer stiefmütterlich behandelt. Entsprechend stiess ich auf wenig Anklang, als ich mein Vorhaben 2016 in einem Kolloquium präsentierte. Aber die Posts sagen sehr viel über Individuen aus, über ihre Lebenskontexte und Lebenswelten, über ihre Haltung zu Familie, aber auch zu Behörden, zum Staat, zum Land. Es sind quasi die Tagebücher und Fotoalben der digitalen Zeit. Ich entwickelte deswegen den Begriff «born-digitale Egodokumente». Die Frauen produzieren diese Quellen selbst und präsentieren so eine wertvolle Innensicht – und sie weisen in die Vergangenheit. Meine Forschung hat anhand dieses exemplarischen Falles gezeigt, dass Born-Digital-Quellen Meistererzählungen dekonstruieren können, wie in diesem Fall die vorherrschende männerzentrierte Erzählung über Red Power. Oder anders gesagt: Sie vermögen ein dominantes Narrativ um Seiten zu ergänzen, die bis dahin für unsichtbar gehalten oder nur wenig beachtet wurden.
 

Rachel Hubers Dissertation ist unter dem Titel «Die Frauen der Red-Power-Bewegung. Die Bedeutung von Born-digital-Selbstzeugnissen für unsichtbare Akteurinnen in der Erinnerungskultur» erschienen (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; Aufruf auch Open Access). Huber hat für die Studie den Brigitte-Schnegg-Preis 2023 der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF) erhalten. Betreut wurde die Doktorarbeit von Aram Mattioli, (inzwischen emeritierter) Professor für Geschichte der Neuesten Zeit. Rachel Huber arbeitet mittlerweile als assoziierte Forschende bei den Digital Humanities am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Koordinationsstelle Teilhabe, Direktion der Justiz und des Innern, Kanton Zürich.
 

Das Interview ist im Jahresbericht 2023 der Universität Luzern erschienen.

Vera Bender

Freischaffende Texterin und Mitglied der ALUMNI Organisation der Universität Luzern