Laura Preissler hat untersucht, wie Elternschaft in der Schweiz durch staatliche Institutionen, aber auch durch die Eltern selbst überwacht und diszipliniert wird. Dabei zeigt sich: Es ist auch Widerstand möglich.

Woman With Child Visiting To Social Worker
(Bild: ©istock.com/DragonImages)

Laura Preissler, wie sind Sie auf das Thema Ihrer nun abgeschlossenen Dissertation «Governing Parents» gekommen?

Laura Preissler: Zu Beginn interessierte mich, wo Eltern nach Rat suchen, wenn es um die Pflege und Erziehung ihrer Kinder geht, und wer die Autorität innehat, diesen Rat zu erteilen. Schnell wurde mir klar, dass diese Thematik nicht nur aufzeigt, dass das Aufziehen von Kindern heute vermehrt von Fachpersonen angeleitet wird. Sie wirft auch ein Licht darauf, wie der Schweizer Staat anstrebt, Elternschaft zu lenken, und wie sich die Ansätze hierzu in den letzten Jahrzehnten verändert haben.

Das heisst, staatliche Institutionen nehmen schon länger Einfluss auf Elternschaft. Inwiefern?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in der Schweiz sogar bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein – wurden eugenische Massnahmen in Form von reproduktiven Eingriffen wie Zwangsabtreibungen, Sterilisationen oder Eheverboten für psychisch kranke Menschen in vielen westlichen Staaten als ein Mittel erachtet, um sozialen Problemen zu begegnen. In der Schweiz war die Fremdplatzierung von Kindern aus armen Familien, von alleinerziehenden Müttern oder der jenischen Minderheit nicht nur ein Eingriff in die biologische und soziale Reproduktion bestimmter Gruppen von Eltern, sondern darauf abgestellt, die Bevölkerung zu «verbessern».

Laura Preissler
Laura Preissler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethnologischen Seminar; Dr.

Wie unterscheidet sich die heutige Einflussnahme durch den Staat von den früheren Zwangsmassnahmen und welche Motive liegen dem zugrunde?

Europäische Staaten haben sich von repressiven Kinderschutzmassnahmen, die oft auf marginalisierte Gruppen abzielten, distanziert und verfolgen heute einen sogenannt «ermächtigenden» Ansatz, der einerseits auf Prävention ausgerichtet ist und andererseits eine Kooperation zwischen Fachpersonen und Eltern anstrebt. Es gilt, vermeintlich negative Einflüsse aufzudecken oder idealerweise ganz zu eliminieren, um Kinder vor langfristigen Gesundheitsschäden oder einer «abnormen» Entwicklung zu schützen. Dabei spielen Fachpersonen, die eine regelmässige und niederschwellige Beratung für Eltern anbieten, eine bedeutende Rolle.

Wieso hat der Schweizer Staat heute ein Interesse daran, auf den privaten Lebensbereich von Elternschaft und Erziehung Einfluss zu nehmen?

Die Auswirkungen früher Kindheitserfahrungen sind ein zentrales Anliegen schweizerischer Regierungsinstitutionen, da angenommen wird, dass sie das spätere Erwachsenenleben massgeblich prägen. Der Ausbau von Frühförderungsprogrammen wird als Investition in die Zukunft der Nation betrachtet, da Kinder, die davon profitieren, später gesünder sind und höhere Steuerbeiträge leisten – so wird beispielsweise in einem Bericht der Schweizer UNESCO-Kommission zum Thema Frühkindheit argumentiert.

Der Ausbau von Frühförderungsprogrammen wird als Investition in die Zukunft der Nation betrachtet.
Laura Preissler

In Ihrer Forschung sind Sie der Frage nachgegangen, wie Elternschaft in der Schweiz durch staatliche Fürsorge und Intervention, aber auch durch Eltern selbst reguliert wird. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Ich habe zum einen analysiert, wie Fachpersonen, insbesondere die von Kanton und Gemeinde finanzierten Mütter- und Väterberaterinnen und -berater (MVBs), Eltern beraten und beobachten, und zum anderen, wie Eltern sich selbst wahrnehmen, kontrollieren und disziplinieren. Hierfür habe ich über mehrere Jahre vor allem Mütter sowie MVBs in verschiedenen Kantonen der Schweiz interviewt und begleitet.

Würden Sie die staatliche Einflussnahme als kritisch bewerten?

Mein primäres Ziel bestand nicht darin, öffentliche frühkindliche Dienstleistungen zu kritisieren oder ihre Bedeutung herabzusetzen: Diese können sowohl für Eltern, die Unterstützung benötigen, als auch für das Wohlbefinden von Kindern von unschätzbarem Wert sein. Ich habe selbst vom Beratungsangebot der Mütter- und Väterberatung (MVB) profitiert. Dennoch erachte ich es als essenziell, öffentliche Dienstleistungen sozialwissenschaftlich zu untersuchen, insbesondere im Hinblick darauf, welche Machtbeziehungen durch diese etabliert werden und welchen Effekt sie haben.

In Ihrer Arbeit beziehen Sie sich auch auf Theorien des französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984). Was hat es damit auf sich?

Inspiriert von Foucaults Arbeiten zu Macht in modernen Staaten, beleuchtet mein Projekt Elternschaft in der frühen Kindheit als einen Schauplatz von Überwachung und Disziplinierung durch eine «weiche» Macht, die weniger greifbar und von sogenannt «pastoraler» Natur ist. Das Foucaultsche Konzept der «Pastoralmacht» eignet sich besonders gut, um die komplexen Beziehungen zwischen Eltern und vom Staat finanzierten Fachpersonen zu verstehen und aufzuzeigen, wie staatliche Institutionen, die solche Beratungsangebote finanzieren, auf elterliche Kindererziehung einwirken können.

 

Das Foucaultsche Konzept der ‹Pastoralmacht› eignet sich besonders gut, um die komplexen Beziehungen zwischen Eltern und vom Staat finanzierten Fachpersonen zu verstehen.

Was bedeutet der Begriff «Pastoralmacht» im Kontext Ihres Projekts genau?

Die christliche Vorstellung des Pastors als Hirte, der sozusagen seine Herde zur Erlösung führt, bildet den Grundstein der pastoralen Macht, deren säkulare Form sich in verschiedenen Institutionen moderner Staaten wiederfindet. Foucault beschrieb diese Form der Macht als «individualisierend». Sie erlaubt es staatlichen Institutionen durch den Einsatz von sinnbildlichen Hirten, wie beispielsweise Fachpersonen, die Familien eine individualisierte Beratung bieten, direkt auf das Leben von Einzelpersonen Einfluss zu nehmen und dieses «zum Besseren» zu wenden. Die Macht des Pastors in diesem Fall besteht nicht aus Zwangsmassnahmen, sondern darin, individuellen Familien – und damit der Gesellschaft als Ganzes – Gutes angedeihen zu lassen.

Wie sieht es in der Praxis aus, wenn Fachpersonen wie die MVBs durch die von Foucault beschriebene Pastoralmacht auf Elternschaft Einfluss nehmen?

Der Aufbau einer vertrauensbasierten langfristigen Beziehung ermöglicht es Fachpersonen, nicht nur die Entwicklung der Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten und bei Bedarf zu intervenieren, sondern gewährt auch tiefere Einblicke in das Familien- oder Innenleben der Klientinnen und Klienten. Die Begleitung von Familien wird so effektiver, da mögliche Risiken wie Bindungsstörungen oder ungesunde Ernährung leichter entdeckt, angesprochen und korrigiert werden können. Die Möglichkeit, Elternschaft gewissermassen zu lenken, ist in der Beziehung zwischen Klientinnen und Klienten und Fachperson verankert und hebt die relationalen Aspekte von Foucaults Machtverständnis hervor.

Bei dieser «weichen» Form der Machtausübung besteht wahrscheinlich auch entsprechender Spielraum, sich der Einflussnahme zu entziehen?

In der Tat eröffnet Foucaults Vorstellung von Macht als Beziehung zwischen Individuen Eltern verschiedene Formen des Widerstands, denen ich ebenfalls nachgegangen bin. Abgesehen von MVB-Begleitungen, die durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) angeordnet werden, ist die MVB ein freiwilliges Angebot. Wenn die Beratung für Eltern nicht stimmig ist, suchen sie sich eine andere MVB, lehnen bestimmte Empfehlungen oder Hausbesuche ab, teilen weniger Informationen mit ihrer Beraterin bzw. ihrem Berater oder brechen die Begleitung durch die MVB ganz ab. Pastorale Macht wird also nicht unbedingt als «wohltuend» empfunden und unter Umständen unterwandert. MVBs wiederum sind sich dessen bewusst und beschreiben verschiedene Strategien, um in einem solchen Fall gegenzusteuern.

Wo liegen die Grenzen von Foucaults Theoriennüber Macht in modernen Staaten, bezogen auf Ihre Studie?

Zum Zeitpunkt meiner Forschung waren, mit Ausnahme eines einzigen Sozialarbeiters, alle MVBs Frauen und ein Grossteil ihrer Klientinnen und Klienten Mütter (86 Prozent). Sowohl Pflegeberufe als auch Kindererziehung sind nach wie vor überwiegend in der Hand von Frauen. Angesichts der feministischen Kritik an Foucault, dem vorgeworfen wurde, die Geschlechterdimensionen von biopolitischer Macht ausser Acht gelassen zu haben, ist es wichtig zu betonen, dass das «Lenken» von Elternschaft stark geschlechterspezifisch ist: Im Fall der MVB lenken Frauen andere Frauen – und Mütter spielen eine entscheidende Rolle in der Subjektivierung ihrer Kinder, indem sie die Empfehlungen von Fachpersonen umsetzen. Dadurch wird deutlich, wie stark das Geschlecht die Zusammenhänge zwischen modernen Erziehungspraktiken und disziplinären Machtverhältnissen prägt.

Familie und Gesellschaft im Wandel

Rainy day at the ocean in Sankt Peter Ording
(Bild: ©istock.com/Rike_)

Laura Preisslers Doktorarbeit «Governing Parents: Early Childhood, Intensive Mothering and Disciplinary Power in Switzerland» wurde von Bettina Beer, Professorin für Ethnologie an der Universität Luzern, sowie Anika König, Vertretungsprofessorin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin, betreut. Die mit dem fakultären Dissertationspreis ausgezeichnete Studie ist im Zuge des universitären Forschungsschwerpunkts «Wandel der Familie im Kontext von Migration und Globalisiserung ‹FaMiGlia›» (2016–2022) entstanden. Der interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt unter der Leitung von Bettina Beer brachte eine Reihe von Projekten hervor, welche die Auswirkungen von Globalisierung, wachsender internationaler Mobilität und technologischem Fortschritt auf vertraute Konzepte von Verwandtschaft und Familie untersuchten.

Ebenfalls aus «FaMiGlia» hervorgegangen ist das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt «De-Kinning and Re-kinning?», das voraussichtlich noch bis Ende Juli 2026 laufen wird» (s. Newsmeldung vom 5. November 2021). Als wissenschaftliche Postdoc-Mitarbeiterin beschäftigt sich Laura Preissler hier in einem Teilprojekt mit Entfremdung, bzw. Kontaktabbruch zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern in der Schweiz. Bisher habe sich gezeigt, dass familiäre Entfremdung oft ein schleichender und vielschichtiger Prozess sei, der eine differenzierte Betrachtung des gesamten Lebenslaufes erfordert, so die Forscherin. Auch nach Kontaktabbrüchen blieben etwa rechtliche Bindungen sowie das, was die Studienteilnehmenden als «biologische» oder «genetische» Verbindungen bezeichnen, bestehen. Dies könne sich im Laufe des Lebens in verschiedener Weise manifestieren. Konflikte zwischen Eltern und Kindern transformierten oft das gesamte Verwandtschaftsnetzwerk, so Preissler weiter, und ein «endgültiger» Abbruch aller sozialen Beziehungen könne sich schwierig gestalten.

Open-Access-Abruf von Laura Preisslers Dissertation