Guy P. Marchal († 3. März 2020) ist als «Mythenzertrümmerer» bekannt geworden – er selbst verstand sich allerdings nie als solcher. Generell wird oft übersehen, dass er gerade als Historiker auch zu anderen Forschungsfeldern wichtige Beiträge vorgelegt hat. Ein Nachruf.
Im Frühjahr 1989 nahm der damals 51 Jahre alte Basler Mediävist Guy P. Marchal einen Ruf als ordentlicher Professor für Geschichte an der Theologischen Fakultät Luzern an. Das war eine Zäsur für Luzern und die dort gerade wieder einsetzende Universitätsdiskussion. Denn der Neuberufene war Nichttheologe, lehrte mit der an der Theologischen Fakultät sogenannten «Profangeschichte» eine nichttheologische Disziplin und vertrat überdies ein durch und durch säkulares Wissenschaftsverständnis, was ihn in den Augen seiner neuen Kollegen anfänglich als Paradiesvogel erscheinen liess. Erst aus der Rückschau wird erkennbar, dass sich Guy Marchal in dieser theologischen Bildungseinrichtung genau damit zum Vorreiter, ja zum Vorkämpfer eignete. Als eines der wissenschaftlichen Aushängeschilder der wachsenden Universitätslobby half er jedenfalls von Anfang an mit, universitäres Denken in der Region zu verankern. Rasch etablierte er das von ihm gegründete Historische Seminar innerhalb der deutschsprachigen Universitätslandschaft als innovativen Ansätzen verpflichtete Forschungsstätte. Nach der Verwaltungsreorganisation, durch die 1993 die Hochschule Luzern mit einer Theologischen und einer Geisteswissenschaftlichen Fakultät entstand, machte er sich weitherum als dynamischer Gründungsdekan einen Namen. So wichtig er in dieser Pionierphase als Wissenschaftsorganisator war, liegen seine wahren Verdienste ganz auf wissenschaftlichem Gebiet.
Komplette Abstützung auf Quellen
Als der vor Ideen sprühende, stark frankophil geprägte Historiker am 1. August 1989 seine Arbeit am Philosophischen Institut der Theologischen Fakultät aufnahm, war er in der Innerschweiz längst kein Unbekannter mehr. Denn im Hinblick auf das 600-Jahr-Jubiläum der Schlacht von Sempach (1386) hatte er im Auftrag des Regierungsrates die Anfänge des Luzerner Territorialstaates im 14. Jahrhundert erforscht. In seiner ganz aus den Quellen erarbeiteten Studie blieb der angebliche Opfertod von Arnold von Winkelried – fehlender zeitgenössischer Quellenbelege wegen – komplett unerwähnt. Die zahlreichen Anhänger der alten eidgenössischen Gründungslegenden nahmen ihm dies teilweise als staatsgefährdenden Akt übel, unbesehen davon, dass Marchal sich selbst gar nie als «Mythenzertrümmerer» verstand. Stets betonte er, dass der Winkelried-Mythos genauso wie die anderen Geschichten der antihabsburgischen Befreiungslegende Jahrhunderte lang höchst bedeutsam für das eidgenössische Selbstverständnis war und die Geschichtswissenschaft sich gerade deswegen für dieses interessieren müsse.
Er plädierte dafür, die historisch argumentierenden Identitätsbehauptungen neu als konstruierte Vorstellungskomplexe zu lesen, die viel über ihre jeweilige Entstehungszeit verraten.
Die Erforschung des schweizerischen Geschichtsbewusstseins, zu dem Guy Marchal bereits mit seiner Habilitationsschrift «Die frommen Schweden in Schwyz» (1976) einen ersten wichtigen Beitrag beigesteuert hatte, blieb auch in Luzern sein Hauptarbeitsfeld. Bereits 1991 organisierte er an seiner neuen Wirkungsstätte eine hochkarätige Tagung zum Thema «Sonderfall Schweiz?», welche die Entstehung, Elemente und Funktionen der in der Schweiz zirkulierenden nationalen Identitätsvorstellungen unter die Lupe nahm. Auf dem Kongress hielt er mit «Das Schweizeralpenland: eine imagologische Bastelei» selbst einen wegweisenden Vortrag, in dem er in den Spuren von Benedict Anderson dafür plädierte, die historisch argumentierenden Identitätsbehauptungen neu als konstruierte Vorstellungskomplexe zu lesen, die mehr über ihre jeweilige Entstehungszeit verraten als über die Vergangenheit, von der sie erzählen. Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge erschienen 1992 unter dem bezeichnenden Titel «Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität».
Befreiungslegende – kein Sonderfall
Marchals quellengesättigte Studien zum kollektiven Gedächtnis der Schweiz inspirierten nicht nur die in der Schweiz forschenden Historiker und Historikerinnen. So regte er schon früh an, die nationalen Geschichtsbilder der europäischen Nationalstaaten auch international vergleichend auf ihre narrativen Bausteine hin zu untersuchen. 1999 lud er zu einem Workshop nach Luzern ein, an dem Historiker aus etlichen europäischen Ländern teilnahmen. Aus dieser initialen Veranstaltung ging das riesige Forschungsprojekt «Representations of the Past. The Writing of National Histories in Europe» hervor. Unter der Leitung von Stefan Berger und Christoph Conrad arbeiteten seit 2003 zahlreiche Historiker aus 30 Ländern an einem Vergleich der nationalen Historiografien Europas. Insgesamt erschienen zum Thema bis 2015 acht Bände. Eine Haupterkenntnis dieses Grossvergleichs bestand darin, dass Sonderfall-Behauptungen, aber auch Ursprungsmythen, Opfergeschichten und das Argumentieren mit «natürlichen Grenzen» zu den immer wiederkehrenden Elementen der Nationalgeschichten fast aller europäischer Länder gehören und die schweizerische Befreiungslegende – so gesehen – gar nichts Besonderes darstellt.
Der vor Kurzem im Alter von 81 Jahren verstorbene Guy Marchal ist so prägend für die kritische Auseinandersetzung mit historischen Kollektivgedächtnissen geworden, dass oft übersehen wird, dass er gerade als Historiker in der Tradition der Annales-Schule auch zu anderen Forschungsfeldern wichtige Beiträge vorgelegt hat: zur Historischen Anthropologie etwa oder zur Erforschung von Grenzen und Raumvorstellungen. Im letzten Herbst überraschte er Zunft und Öffentlichkeit mit dem als «Forschungskrimi» bezeichneten Buch «Gustloff im Papierkorb», der in vielen Rezensionen bloss als ein Beitrag zur Ortsgruppe Basel der NSDAP gewürdigt wurde. Dabei ist dieses auch literarisch sehr ansprechende Werk viel mehr: Familiengeschichte und Erzählung über ein Stück unbekannte Basler Geschichte, aber eben auch eine subtile Grundlagenreflexion darüber, was Geschichte vermag und was nicht. Darin finden sich Sätze, die nun zu Guy P. Marchals Vermächtnis geworden sind: «Die Geschichtsschreibung sucht den Menschen früherer Zeiten ihre Zukunft zurückzugeben, und die ist allemal ungewiss und offen … Wie bei der Archäologie die verschiedenen Grabungsschichten, so müssen die von früheren Chronisten und Historikern geschaffenen, jeweils zeitgebundenen Geschichtsbilder und Interpretationen freigelegt werden, die sich wie perspektivisch verzerrende Filter über die Vergangenheit gelegt haben und unsere Sicht beeinträchtigen.»
Meldung zum Tod von Guy P. Marchal (11. März 2020)