1919, und damit vor hundert Jahren, erhielt Carl Spitteler den Nobelpreis für Literatur zugesprochen – dies primär für ein Mammut-Versepos. Aus heutiger Sicht zugänglicher und noch immer hochrelevant ist ein vom Schriftsteller gehaltener politischer Appell.
Boris Previšić, die zweite Hälfte seines Lebens war Carl Spitteler (1845–1924) in Luzern wohnhaft. Welche Spuren hat der einstige Nobelpreisträger
für Literatur denn hier hinterlassen?
Boris Previšić: Wenn wir so was wie eine einprägsame Wanderkunst erlernen wollen, so haben wir mit seiner Artikelreihe «Luzern als Ausflugsstation» eine wunderbare Hommage an die Leuchtenstadt und die umliegenden Ausflugsziele. «Am Vierwaldstättersee herrscht der Raum», lautet Spittelers Prämisse. Entsprechend kann er der Weite, die der in die Alpen eindringende See dem «Touristen» bietet, nur das Beste abgewinnen. Auf das Stanserhorn mag er nicht, weil die Seilbahn zu steil sei. Der Pilatus sei für Luzern dasselbe wie der Vesuv für Neapel. Doch am liebsten bleibt ihm «der» Rigi. So halte er «ein Schönwetter in Luzern, das nicht für den Rigi benützt wird, […] für ein sträflich vergeudetes Schönwetter».
Das sind ja sehr praktische Anweisungen …
Spitteler geht sogar noch weiter: Er rät, wie lange man sich auf dem Schiff aufhalten soll (nicht länger als eine Stunde), wann man sich ein Bad im See genehmigen sollte («bei dunstiger, schwüler Witterung, wenn der Himmel sich weisslich verfärbt»), erklärt, was es mit dem Hunger beim Wandern auf sich hat («Das ökonomische Picknick, das Milch- und Molkenschlappen [Schlürfen; DS] ersetzt nicht eine tüchtige Table d’hôte» [fixes Menü, bspw. am Mittag]) oder ab welcher Höhe «der Mensch niemals müde» wird («über tausend Meter»).
Spannend, aber ist das Literatur?
Weder für die Reise- und Landschaftsbeschreibungen, die er bereits als Redaktor der NZZ geschrieben hat, noch für seine frühe dramatische Fortsetzungsgeschichte «Das Wettfasten von Heimligen» (1890) hat Spitteler den Nobelpreis gekriegt. Im Gegenzug erhielt er den lukrativen Auftrag von der in Luzern ansässigen Gotthardbahngesellschaft, den Reiseführer «Der Gotthard» (1897) zu verfassen. Spitteler selber hat dieses Gelegenheitswerk nicht als Literatur betrachtet. So sieht er am Schluss seines Lebens davon ab, den Führer nochmals herauszugeben. Doch interessant in den eingängigen Anleitungen und Beschreibungen bleibt die stilistische und thematische Fallhöhe zwischen erhabener Landschaft, Ironisierung von touristischer Wahrnehmung und praktischer Anweisung.
Gelegenheitsarbeiten als Vorübungen für sein ernsthaftes literarisches Schaffen?
Ja, genau – und dies auf zwei Ebenen, die miteinander verknüpft sind: In seinen ästhetischen Überlegungen weist Spitteler zum einen darauf hin, dass die richtige Wahrnehmung erst dann erfolgt, wenn man sich ihrer nicht mehr bewusst ist, sondern in der Landschaft als Teil aufgeht. Erst ohne touristische Blicklenkung und Schablonisierung der Wahrnehmung sei die Seele eine leere Folie, auf der sich die Umgebung richtig einprägt und verinnerlichen lässt. Zum anderen müsse sich der Schriftsteller im Realismus stetig üben, um idealistisch wirken zu können.
Und das ist nun das antikisierende Werk wie das Versepos «Olympischer Frühling» (1905), wofür er den Nobelpreis gekriegt hat?
Über zwanzigtausend Verse in paargereimten, durchgehend jambischen Alexandrinern einer grossen Erzählung, in welcher die Götter als Menschen auftreten, zu folgen, entspricht weder heute noch damals einem breiteren Lesegeschmack – im Stile von: «Auf Erden ferne steht ein Berg, Olymp genannt, / Zum Himmel reicht sein Haupt, sein Fuss ins Menschenland[.]» Auch mag die irrationale Lebensbejahung gegen Planbarkeit und Durchmechanisierung der Moderne anachronistisch anmuten – auch wenn diese implizite Kritik heute wieder gefragter ist denn je. So gibt selbst Adolf Muschg zu bedenken, dass Spitteler seit zwei Generationen nicht mehr gelesen wird. Was mich aber fasziniert, ist die traumwandlerische Sicherheit im sprachlichen Rhythmus.
Was mich fasziniert, ist die traumwandlerische Sicherheit im sprachlichen Rhythmus.
Spitteler als Komponist?
Ja, unbedingt. Zwar hat er als Komponist in der Musik lediglich dilettiert. So sind zwei Dutzend Seiten Noten aus seinem Nachlass bekannt. Die sind zu vernachlässigen und geben nicht viel her. Doch war er ein Meister der sprachlichen Melodie, die in seinem freirhythmischen «Prometheus und Epimetheus» (1881) aus den Anfängen seines literarischen Schaffens eigentlich am besten zum Ausdruck kommt. Man fühlt sich hier an die Dichtung eines Nietzsche erinnert, mit dem er in Basel auch in Austausch stand, wenn man Prometheus zuhört, wie er seinem Bruder gleich zu Beginn zuruft: «Auf! Lass uns anders werden, als die Vielen, die da wimmeln in dem allgemeinen Haufen!»
Wie reagierten Zeitgenossen auf diese unzeitgemässen Betrachtungen?
Mit Erstaunen: Gottfried Keller sprach von einem «urweltlichen Poeten aus der Zeit, wo die Religionen und Göttersagen wuchsen und doch schon vieles erlebt war» und bezeichnet die epische Form als «grossartig naiven Gesang». Und Theodor Fontane hatte nicht ganz unrecht mit der Charakterisierung dieser Dichtung als «Untergrundliteratur».
Hand aufs Herz: Lohnt es sich, heute noch Spitteler zu lesen?
Ich sage ja nicht, dass man sich auf die Dichtung einschiessen soll, wofür er den Nobelpreis bekommen hat. Was aber an Spitteler fasziniert, ist neben der genannten Fallhöhe und Ironie in seinen Gebrauchstexten die stilistische und thematische Breite, die von Gottfried Kellers «Seldwyla» bis zu Stefan Georges Hermetik reicht. Lohnenswert ist sicherlich die Lektüre seines eigentlichen Bekenntnisschreibens «Imago» (1906). Spitteler selbst meinte dazu, dass er in all seinen anderen Werken «verhüllt und maskiert» erscheine, hier aber zeige er seiner «Seele kleinste Fasern». So erstaunt es nicht, dass Freud seine 1912 gegründete «Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften» nach Spittelers Confessio benannt hat: «Imago».
Wie kann man denn Spitteler noch heute etwas abgewinnen?
Man sollte ihn unbedingt als reflektierten, manchmal leicht verschwurbelten Zeitzeugen lesen. So abgehoben seine literarischen Erzeugnisse sind, so genau dokumentiert er den neuen alpinen Tourismus, der dank der neuen Infrastruktur der vorletzten Jahrhundertwende, insbesondere dank der Bergbahnen, ermöglicht wurde.
Spitteler also aus historiografischer oder kulturtechnischer Perspektive. Was ist denn der Nutzen einer Literaturwissenschaft in der heutigen Zeit?
Die literaturwissenschaftliche Perspektive macht auf spezifisch sprachliche Formen der Kommunikation aufmerksam. Sie untersucht rhetorische Verfahren, verweist auf narrative, dramatische oder dichterische Formen. Sie macht auch andere Kunstwerke, ja, Kultur insgesamt lesbar.
Geht darum die Kulturwissenschaft aus der Literaturwissenschaft hervor?
Ja, das mag sicherlich ein Grund sein, dass wichtige kulturwissenschaftliche Ansätze aus der Literaturwissenschaft hervorgehen. Denken Sie nur an Roland Barthes, an Edward Said, an Umberto Eco oder an Mieke Bal, die von der Universität Luzern vor drei Jahren die Ehrendoktorwürde erhalten hat. Sie alle waren im Kern harte Literaturwissenschaftler, Semiotiker, Narratologen.
Zum Abschluss noch einmal zu Spitteler zurück: Welchen Text von ihm muss man unbedingt gelesen haben?
Den politischsten Text: «Unser Schweizer Standpunkt». Diese Rede hat er im Dezember 1914 und damit gut vier Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Zürich gehalten. An kaum einem anderen Text hat er so lange geschliffen, kaum einen anderen Text hat er für die Publikation so oft überarbeitet. Er benennt darin den Graben, den die Schweiz durchzieht – die Solidarität der Romands für Frankreich einerseits, der Deutschschweizer für das Deutsche Reich andererseits, wodurch die Schweiz zu zerreissen droht – und fordert zur bedingungslosen Neutralität auf. Hier äussert sich ein Apolitischer hochpolitisch in konziser Rhetorik und mit innigstem Kommunikationstalent.
Jubiläumsanlass am 14. September an der Universität
Als Würdigung der Person Spittelers und seines Werks findet an der Universität Luzern am 14. September ein Festakt statt. Es handelt sich um einen gemeinsam von Kanton und Stadt Luzern, vom Verein «Carl Spitteler – 100 Jahre Literaturnobelpreis» und von der Universität getragenen Anlass. Unter anderem sprechen Autorin Gisela Widmer und Literaturwissenschaftler Peter von Matt. Für die interessierte Öffentlichkeit steht eine beschränkte Anzahl Plätze zur Verfügung.
Informationen und Anmeldung