Die digitale Transformation verläuft rasant. In zwei Masterveranstaltungen lernten Studierende, damit zusammenhängende Rechtsfragen zu verstehen und das erworbene juristische Handwerk auf die neuen Technologien anzuwenden.
Immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft und Wirtschaft sind von digitaler Technologie durchdrungen. Gleichzeitig wird der Übergang von der digitalen zur analogen Welt immer fliessender – die Jugendlichen wechseln nahtlos zwischen digitalen Kanälen und direkten Kommunikationsformen. Die Corona-Pandemie sorgte für eine zusätzliche Beschleunigung dieses Trends. Auch der Hochschulbereich hat sich in dieser Zeit stark verändert: Lehre und Forschung via Videokonferenzen, digitale Prüfungen und das Verfassen von schriftlichen Arbeiten im Zeitalter eines Internets, in dem der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) eine immer grössere Rolle spielt, sind nur ein paar Themen. Und auch hier: Die hybride Lehre, also die Gleichzeitigkeit von Vorlesungen im Hörsaal und Videoaufzeichnungen, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie digitale und analoge Welt zusammenwachsen.
Internet als Entwicklungstreiber
Die Digitalisierung erfasst auch zunehmend das Recht und unseren Umgang damit. Juristinnen und Juristen tun sich schwer, das Tempo der Innovationen im Bereich der digitalen Technologien im Recht nachzuvollziehen. Zwar befassen sie sich schon seit über sechzig Jahren mit der Frage der Auswirkungen der Digitalisierung auf das Recht. Eine grundlegende rechtliche Herausforderung brachte jedoch erst die Abwicklung von Rechtsgeschäften über das Internet, weil damit jede Person neue spontane Rechtsbeziehungen mit anderen Personen aufbauen und Rechtsbeziehungen abwickeln kann. Dies ermöglichte neue Geschäftsmodelle, die nicht nur neue Herausforderungen für das Vertragsrecht bereithielten (Stichwort: E-Commerce), sondern auch den Schutz der Persönlichkeit und Freiheitsrechte in Frage stellten (Stichwort: Datenschutz), da mit der Vervielfachung von Rechen- und Speicherkapazitäten ein schier unendliches Potenzial an Informationen und Wissen geschaffen wird.
Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen mussten auch die Schutzmechanismen für Konsumentinnen oder Nutzer in Bezug auf Finanzdienstleistungen neu überdacht werden. Bislang gab es ein enges Verhältnis zwischen einem Rechtsträger und seinen Rechtshandlungen. Künstliche Intelligenz oder Blockchain bergen nun jedoch die Gefahr, dieses enge Rechtsverhältnis aufzubrechen. So stellen zum Beispiel autonom fahrende Autos das Verantwortlichkeits- und Haftungsrecht vor grundlegend neue Herausforderungen. Für Juristinnen und Juristen ist es eine prägende Erfahrung, wie schnell sich die Wirtschaft diese neuen technischen Errungenschaften zunutze macht, obwohl viele Rechtsfragen noch offen sind und in der Praxis erhebliche rechtliche und ökonomische Risiken in Kauf genommen werden.
Die Rechtspraxis hat auf diese Herausforderungen reagiert und sich in den letzten zwanzig Jahren entscheidend weiterentwickelt. Der schweizerische Gesetzgeber passte überraschend schnell seine Gesetze an diese neuen Herausforderungen an, ähnlich wie andere Staaten (z.B. Frankreich, Deutschland, die USA, Liechtenstein, Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate); Finanzmarktbehörden wie die FINMA in der Schweiz oder die SEC in den USA änderten ihre Praxis entsprechend, und internationale Organisationen wie die UNIDROIT und die UNCITRAL entwickelten Modellgesetze, an denen sich nationale Gesetzgeber ausrichten können. Diese Entwicklung ist bei Weitem nicht abgeschlossen, denn diese Rechtssetzungsprozesse hinken dem technischen Fortschritt naturgemäss hinterher, auch wenn die Gesetzgeber versuchen, über technologieneutrale Formulierungen generelle rechtliche Standards zu entwickeln.
Entwickeln von vorläufigen Argumenten
Im Rahmen der im Herbstsemester 2022 erstmals durchgeführten Masterlehrveranstaltung «Digitale Rechtsgeschäfte – Gaming, DAO, Smart Contracts, NFT, IoT in Theorie und Praxis» machten sich die Studierenden mit derartigen rechtlichen Problemstellungen vertraut. Dabei lernten sie, sich dermassen eingehend mit den dahinterstehenden Technologien bekannt zu machen, sodass ein gemeinsames Nachdenken und eine Diskussion über diese Rechtsfragen möglich waren. Dabei konnten sich Dozierende und Studierende nicht allein auf Lehre und Rechtsprechung verlassen. Vielmehr ging es in der Lehrveranstaltung darum, das erworbene juristische Handwerkszeug auf die neuen technischen Entwicklungen anzuwenden, ohne dass die entsprechenden Argumente klar «richtig» oder «falsch» sind.
Das Obligationenrecht hält fest, dass beim Abschluss eines Vertrags grundsätzlich die übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung der Parteien erforderlich ist. Will man diesen Grundsatz auf digitale Verträge übertragen, kommt ein ganzer Strauss an Rechtsfragen auf: Welche Rolle spielt der Mensch als Quelle einer Willensäusserung noch, wenn dieser Wille unter Einbezug von KI entsteht und so von der rechtlich gebundenen Person nicht mehr kontrolliert werden kann? Dies zum Beispiel bei automatisch ausgelösten Verkaufsentscheiden von Aktien. Wer trägt die Verantwortung bei Schäden, die autonome Systeme wie etwa selbstfahrende Autos verursachen? Wie können vertragliche Rückforderungsrechte aus Irrtum oder Täuschung geltend gemacht werden, wenn etwa die Ausführung von Transaktionen unveränderlich auf einer Blockchain festgeschrieben ist? Oder wie kann sich zum Beispiel eine Person in einem Bewerbungsverfahren gegen KI-basierte Entscheide wehren, wenn die KI fehlerhafte Daten verwendet hat?
Wichtiger Blick in die Praxis
In der Lehrveranstaltung wurden solche Fragen diskutiert, neue gesetzgeberische Entwicklungen analysiert und konkrete Lösungsansätze aufgezeigt. Eine Weiterführung erfolgte in der im nachfolgenden Semester durchgeführten Veranstaltung «Vertragsgestaltung im digitalen Raum: Einblick in die Praxis». Die Studierenden wurden zuerst in die Theorie der Vertragsgestaltung eingeführt. Einen praxisnahen Einblick erhielten sie dadurch, dass eingeladene Praktikerinnen und Praktiker über ihre Projekte im digitalen Raum in sehr unterschiedlichen Bereichen berichteten, wie Daura, Obligate, DMZ Music, SAP, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Gespräch mit den Studierenden wurden dabei die entsprechenden rechtlichen Herausforderungen diskutiert.
Diese Verbindung von Technik und Recht wird die Arbeit von Juristinnen und Juristen in den nächsten Jahren nachhaltig verändern. Die Rechtwissenschaft rühmt sich, eine der ältesten Wissenschaften zu sein. Das heutige Rechtssystem baut auf einem geronnenen Erfahrungsschatz vieler Jahrhunderte auf. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die Rechtswissenschaft mit diesem Erfahrungsschatz auch den heutigen Herausforderungen gewachsen ist. Die Gerichte und Vollzugsbehörden finden schrittweise Antworten auf die neu aufgeworfenen Rechtsfragen, die Gesetzgeber schliessen diese Lücken und greifen korrigierend ein. Lehre und Forschung begleiten und hinterfragen diese Entwicklung – in Luzern, neben anderen Veranstaltungen, auch in den hier vorgestellten Vorlesungen.
Prof. Dr. Andreas Furrer ist Ordinarius für Privatrecht, Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht; Stefanie Fuchs ist wissenschaftliche Assistentin an seinem Lehrstuhl. Die beiden im Text erwähnten Lehrveranstaltungen fanden unter Furrers Leitung statt, Fuchs war daran unterstützend beteiligt.