Weit oben in Nordamerika, wo es keine Strassen und Städte gibt, leben Cree und Ojibwe, indigene Völker. Die teils drastischen Zeitzeugenberichte, die der Historiker Manuel Menrath zusammengetragen hat, zeigen die bisher ignorierte Tragweite der Kolonialisierung Kanadas.

Manuel Menrath, Lehr- und Forschungsbeauftragter am Historischen Seminar (Mitte), bei einem Treffen mit Chief Bart Meekis (links) und Deputy-Chief Robert Kakegamic von der «Sandy Lake First Nation» in Nord-Ontario

Manuel Menrath, Sie waren mehrere Monate vor Ort, um mehr über die Indianer, ihre Geschichte und heutige Lebensweise zu erfahren. Gibt es dort denn noch Indigene, die relativ unbeeinflusst in ihrer traditionellen Kultur verwurzelt sind?
Manuel Menrath: Ich hatte die Vorstellung, wenn Indigene derart weit im Norden Kanadas leben, dann müssten sie so leben können wie seit Tausenden von Jahren, nämlich von der Jagd und vom Fischen. Die Realität ist jedoch eine andere: Im 19. Jahrhundert waren immer mehr Siedler von Europa nach Nordamerika geströmt. Ab den 1870er-Jahren kam es zu ersten Vertragsschliessungen zwischen der 1867 gegründeten kanadischen Konföderation und indianischen Nationen. In Kanada muss man von einem Ressourcen-Kolonialismus sprechen, denn die eingewanderten Kanadier wollten die Bodenschätze, das Holz und die Flüsse nutzen. Die Indianer waren «Hindernisse», also versuchte man alles, um sie in Reservate einzupferchen. Man steckte ihre Kinder in Internate, sogenannte Residential Schools, wo sie zwangsmissioniert und umerzogen wurden. Es waren vor allem Geistliche, die mit dem Staat zusammenarbeiteten. Das Ziel: die Zerstörung der indianischen Kultur nach dem Motto «Töte den Indianer, rette das Kind». 

Sie sprachen mit diversen Zeitzeuginnen und -zeugen …
Ich führte über hundert, teils mehrstündige Interviews in indigenen Siedlungen und liess die Menschen einfach erzählen. Einige der gemachten Aussagen beschäftigen mich noch heute: So hatte mich etwa ein Elder, so nennt man die angesehenen Ältesten, im Reservat mit dem Auto aufgeladen. Während der Fahrt erzählte er von seiner Zeit in einer Residential School. Er hielt an, hob sein T-Shirt an und zeigte mir Narben auf seiner Brust – hier habe ein Priester als Strafe Zigaretten ausgedrückt. Eine inzwischen 75-jährige Frau berichtete mir, dass sie in einer Residential School von einem Priester vergewaltigt worden sei. Sie zeigte mir auch ihren verkrüppelten kleinen Finger. Als ihr beim Klavierspielen in der Schule ein Fehler unterlaufen sei, habe eine Nonne den Deckel heruntergeschlagen. Nach und nach realisierte ich, dass diese Berichte keineswegs Ausnahmen sind.
 

Der «Indian Act» von 1876 ist eine Gesetzesgrundlage, mit der das Reservatssystem eingeführt wurde, das die Indianer in die Sesshaftigkeit zwang. Was ist davon heute noch übrig?
Die Cree und Ojibwe im Norden Ontarios hatten in ihrer traditionellen Kultur einzig Sommerzusammenkünfte, und im Winter ging jede Familie auf ihre Jagdgründe, sogenannte «Traplines». Mit der Einführung der Reservate mussten sie mit einem Male in einem Dorf und in einer grossen Gemeinschaft leben. Im Umkreis von ein paar Meilen gab es bald zu wenig zum Jagen und Fischen. Dessen ungeachtet, kontrollierten die kanadischen Beamten rigoros, wenn Indianer in «verbotenen» Gebieten jagten, konfiszierten Jagdutensilien und verhafteten Leute. Und das waren wohlgemerkt keine Angehörigen von Kriegernationen, sondern Familien, die in Kleingruppen existierten! Mit der Zeit wurde das Wild generell knapp, und es grassierten aus Europa eingeschleppte Krankheiten. In den 1950er-Jahren mussten sich die Indigenen dann definitiv in den Reservaten niederlassen und waren grossmehrheitlich auf die kanadische Sozialhilfe angewiesen – das ist die Situation, wie sie noch heute aktuell ist. 

Die indigene Bevölkerung ist immer noch dabei, generationenübergreifende Traumata zu verarbeiten.

Zu dieser Realität zählen eine hohe Selbstmordrate und weit verbreitete Arbeitslosigkeit, Armut sowie Drogen- und Alkoholabhängigkeit …
Ja, es ist tragisch. Das Problem rührt von einer total gescheiterten sogenannten Indianerpolitik her. Die indigene Bevölkerung ist immer noch dabei, generationenübergreifende Traumata zu verarbeiten, die durch das Zwangsassimilationssystem in den Residential Schools verursacht wurden. Davon abgesehen, gibt es so weit im Norden wenig Arbeitsmöglichkeiten, es ist alles so abgelegen. Ich denke, die Indianer wären um einiges bessergestellt, wenn sie mehr Mitsprache hätten und sich respektiert fühlten – als souveräne Herren auf ihrem eigenen Grund könnten sie etwa von den Bodenschätzen profitieren, wie das in den Verträgen eigentlich angedacht war. Dies wurde aber verhindert; und das ist auch das Grundproblem: Man lässt die Indigenen nicht gerecht am Wohlstand teilhaben. Dadurch haben sie keine Chance, aus der Armutsfalle auszubrechen.

Weshalb werden die Verträge über das heutige Gebiet Kanadas ganz unterschiedlich interpretiert?
Die Indigenen unterzeichneten diese Verträge aufgrund dessen, was ihnen mündlich gesagt worden war. Sie kannten einzig ihre eigene Cree-Schrift. Es wurde ihnen zugesichert, dass sie, «solange die Sonne scheint, die Flüsse fliessen und das Gras wächst», jagen, trappen und fischen dürfen. Auf dieser Basis willigten sie ein, das Land mit den Neuankömmlingen gegen eine jährliche Abgabe zu teilen. In der westlichen Interpretation scheint es klar zu sein: Mit der Unterschrift wurde das Land abgetreten. Daher nimmt sich Kanada das Recht, auf indianischem Land seine Gerichtsbarkeit durchzusetzen, seine Gesetze anzuwenden und das Land gegen Lizenzeinnahmen Minen- und Bergbaufirmen zur Verfügung zu stellen – ein völlig diametral entgegengesetztes Verständnis.

Wie steht die indigene Bevölkerung heute für ihre politischen Rechte ein?
Anfang 2020 protestierten Menschen an der Westküste Kanadas gegen den Bau einer neuen Erdgas-Pipeline, welche durch indigenes Territorium führen sollte. Dies löste eine Welle der Solidarität in der indigenen Bevölkerung aus – durch Blockaden brach das gesamte kanadische Eisenbahn- und Versorgungsnetz zusammen. Die Indianer haben heute also durchaus eine Stimme und Einfluss. Es gibt immer mehr indigene Politikerinnen und Politiker sowie Unterstützung von Menschen auch aus der kanadischen Dominanzgesellschaft. Man kann die Missstände nicht länger unter dem Deckel halten. Auch die lange Zeit vorherrschende Erzählung der Geschichte Kanadas und das Selbstbild eines besseren und freundlicheren Nordamerikas, in zwanghafter Abgrenzung zu den USA, wird vor dem Hintergrund des Geschehenen unglaublich rissig. 

Zum Schluss: Indianer, First Nations oder einfach nur Cree und Ojibwe – welche Bezeichnung ist denn nun politisch korrekt?
«First Nations» ist nach kanadischem Recht die offizielle Bezeichnung von anerkannten indianischen Gemeinschaften – sie wird von diesen allerdings teilweise abgelehnt mit der Begründung, dass sie nicht nur zuerst, sondern schon immer da gewesen seien. «Indianer» ist, wie ich finde, nicht so problematisch wie der englische Begriff «Indian», was Inder bedeutet, aber er ist bei uns romantisch aufgeladen. Den Indianer gibt es nämlich gar nicht: Vielmehr ist es beispielsweise ein Cree, ein Lakota, ein Anishinabe/Ojibwe oder ein Blackfoot.

Indianische Geschichte sichtbar machen

«Armut im Land der Diamanten»: So beschreibt Manuel Menrath die Situation der indigenen Bevölkerung im äussersten Norden der kanadischen Provinz Ontario. Diese ist von sozialen Krisen geprägt und steht im Gegensatz zum reichen Kanada, das seinen Wohlstand dem Abbau und Export riesiger Rohstoffvorkommen verdankt. Für ihre Rechte und die Aufarbeitung ihrer Geschichte muss die indigene Bevölkerung noch immer kämpfen. Nach der Veröffentlichung seiner Doktorarbeit unter dem Titel «Mission Sitting Bull. Die Geschichte der katholischen Sioux» 2016 ist in diesem Herbst nun «Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land» erschienen.

Die Geschichte des indianischen Nordamerikas ist ein Forschungsschwerpunkt am Historischen Seminar der Universität Luzern. Aram Mattioli, Professor für Geschichte der Neuesten Zeit, machte 2011 den Auftakt mit dem Aufsatz «Auf dem Pfad der Tränen». Darin beschreibt er, wie zwischen 1831 und 1838 Tausende Indianerinnen und Indianer aus ihrer Heimat im Südosten der USA vertrieben wurden. 2017 erschien von ihm die Gesamtdarstellung «Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910». Rachel Huber untersucht derzeit in ihrem Dissertationsprojekt am Beispiel indigener Aktivistinnen in den USA, wie die Digitalisierung die Geschichte unterdrückter Minderheiten sichtbar machen kann. Auch Studierende befassen sich in ihren Abschlussarbeiten mit der Thematik und forschten unter anderem zu den Residential Schools in Kanada oder zu DDR-Indianerfilmen. 2014 wurde zudem der am Dartmouth College in New Hampshire (USA) lehrende Professor Colin Calloway mit dem Ehrendoktorat der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät ausgezeichnet. Er gilt als ein bedeutender Erneuerer der nordamerikanischen Geschichtsschreibung.