Das neue Zentrum für Theologie und Philosophie der Religionen widmet sich den mannigfaltigen Verbindungslinien zwischen Christentum, Judentum und dem Islam. Es geht darum, so die Zentrumsleitenden, ein «gemeinsames Gedächtnis» zu schaffen.
Erdal Toprakyaran, Giovanni Ventimiglia und Verena Lenzen, Sie leiten das neue das neue Zentrum. Welche Bedeutung hat dieses für die Theologische Fakultät?
Erdal Toprakyaran: Theologische Fakultäten müssen sich in unserer pluralistischen Gegenwart immer stärker öffnen. Theologinnen und Theologen können heute nicht mehr in ihrem Elfenbeinturm sitzen oder sich allein mit der eigenen Form von Religiosität beschäftigen. Wir wissen heute, dass Religionen keine monolithischen Phänomene sind, sondern sich prozesshaft und stets in positiver oder negativer Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen entwickeln und verändern.
Giovanni Ventimiglia: Genau. Heutzutage ist der interreligiöse Dialog ein heisses Thema. Keine theologische Fakultät kommt umhin, sich damit zu befassen. Aber der Dialog kann auf zwei Arten geführt werden: trotz des Glaubens oder dank des Glaubens. Im ersten Fall wird der Dialog geführt, indem die eigene Glaubensidentität in Klammern gesetzt wird; im zweiten Fall wird er geführt, indem die Geschichte der eigenen Identität erforscht wird. Und wenn wir zu den Wurzeln der christlichen Theologie zurückgehen, finden wir wichtige Spuren des Judentums und des Islams. Man denke nur an den Einfluss von Avicenna oder von Moses Maimonides auf die christliche Theologie. Das ist die Bedeutung des neuen Zentrums für die Fakultät: Indem sie ihren Wurzeln treu bleibt, öffnet sich die Theologie in Luzern für andere Religionen.
Verena Lenzen*: Ja, das Zentrum ermöglicht eine interreligiöse Erweiterung durch die Einbeziehung von Islam und Islamtheologie. Das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) behandelt bereits seit 40 Jahren die besondere, ja, einzigartige Beziehung zwischen Judentum und Christentum. 50 Jahre Judaistik in Luzern haben dem Fach die seit der Emanzipation erhoffte akademische Integration und Eigenständigkeit gebracht. Aufgabe des Zentrums sollte ein weiterer Ausbau der Islamwissenschaft sein.
Und welche Bedeutung hat das Zentrum für Sie persönlich und für Ihre Arbeit?
Toprakyaran: Für mich persönlich geht damit ein Traum in Erfüllung. Denn das trialogische und damit abrahamitische Zentrum in Luzern bietet mir als muslimischem Theologen die Möglichkeit, mit Kolleginnen und Kollegen aus der christlichen Theologie und der Judaistik eng vernetzt zusammenzuarbeiten.
Ventimiglia: Für mich ist das Zentrum die natürliche Weiterentwicklung eines Themas, das meine Forschung und Lehre seit Jahren begleitet: die multikulturelle Natur der «DNA» des Westens. Kurzum: Wer sich mit der Geschichte der Philosophie und ganz allgemein mit der Geschichte der westlichen Kultur beschäftigt, wird feststellen, dass die westliche kulturelle Identität das Ergebnis der Begegnung der griechisch-heidnischen Kultur mit der jüdischen, christlichen und islamischen Kultur ist.
Wir möchten zeigen, dass die Anhängerinnen und Anhänger der drei abrahamitischen Religionen vielfältiger, kreativer und offener waren als angenommen und es auch heute noch sind.
Welche Ziele werden mit dem Zentrum verfolgt?
Ventimiglia: Die Ziele des Zentrums sind die gleichen wie diejenigen der Universität, nämlich Forschung und Lehre. Die Forschungsgebiete sind vor allem: Komparative Theologie, Theologie der Religionen, Philosophie der Religionen, Mystik der Religionen, interreligiöser Dialog und interreligiöse Konfliktforschung. Diese Bereiche werden in enger Zusammenarbeit innerhalb und ausserhalb der Universität Luzern mit anderen Universitäten und Forschungsinstituten in und ausserhalb Luzerns in methodischer und historischer Perspektive bearbeitet.
Toprakyaran: Wir möchten zeigen, dass die Anhängerinnen und Anhänger der drei abrahamitischen Religionen vielfältiger, kreativer und offener waren als angenommen und es auch heute noch sind. Wir werden durch unsere primär historische Forschung verdeutlichen, dass sich die theologischen, philosophischen oder mystischen Schulen in den drei Religionen oftmals interreligiös inspirieren liessen. Deshalb macht heute eine voneinander losgelöste, monolithisch gedachte Erforschung der drei Religionen keinen Sinn mehr, da die Grenzen der Religionen und der religiösen Richtungen nicht immer scharf waren. Abgesehen von den zahlreichen kulturellen Gemeinsamkeiten der Anhängerinnen und Anhänger der drei Religionen, gab es auch stets (inter-)religiöse Grauzonen und Überlappungen. So existieren verschiedene Orte, Räume, Personen oder Gegenstände, die in unterschiedlichen religiösen Traditionen als gleichermassen heilig angesehen werden, etwa Abraham oder die Stadt Jerusalem.
Mit der Vergabe der Ehrendoktorate 2021 der Fakultät an die beiden international anerkannten Wissenschaftlerinnen Prof. Dr. Mualla Selçuk und Prof. Dr. Susannah Heschel stand das neue Zentrum bereits im Gründungsjahr im Fokus der Geschehnisse an der Fakultät. Wie ist die Annahme des Ehrendoktorats der beiden Forscherinnen einzuschätzen? Welche Bedeutung hat dies für das Zentrum?
Toprakyaran: Die Verleihung der Ehrendoktorate würde ich bereits jetzt als einen Meilenstein in der Geschichte der Fakultät und auch des Zentrums sehen. Es ist sicherlich ein vielversprechendes Zeichen, wenn man bereits wenige Monate nach Gründung des Zentrums mit einem als historisch zu bezeichnenden Ereignis aufwarten kann. Denn erstmals wurden gleichzeitig einer muslimischen und einer jüdischen Wissenschaftlerin vonseiten einer christlichen Fakultät ein Ehrendoktorat verliehen. Ich kenne weder in der Schweiz noch in Deutschland oder einem anderen Land einen vergleichbaren Fall. Auch die Tatsache, dass hier zwei als theologisch progressiv geltende und dialogisch orientierte Frauen ausgezeichnet wurden, ist bemerkenswert.
Ventimiglia: Die Bedeutung ist einfach: Das Zentrum nimmt die Herausforderung des interreligiösen Dialogs sehr ernst. Der interreligiöse Dialog wird nicht durch langwierige Diskussionen darüber geführt, wie der interreligiöse Dialog gestaltet werden sollte, sondern indem man tatsächlich mit Menschen verschiedener Religionen spricht. Fakten statt Sitzungen; Menschen statt Konzepte.
Im Herbst 2022 startet der neue, komplett auf Englisch gehaltene Online-Master «Philosophy, Theology and Religions», ein Projekt, das im Rahmen der Zentrumsgründung entstanden ist. Was dürfen künftige Studierende vom Studiengang erwarten?
Ventimiglia: Sie sollten erwarten, die Geschichte der Philosophie in ihrer Gesamtheit zu studieren. Sie werden entdecken, dass es ohne Judentum, Christentum und Islam keine Geschichte der Philosophie und keine Kulturgeschichte des Westens gäbe. Sie werden auch entdecken, dass es eine sehr interessante Geschichte der islamischen Philosophie gibt, die bis in die heutige Zeit reicht! Etwas, das im Westen völlig unbekannt ist.
Toprakyaran: Dieser Studiengang ist ein Unikat. Zwar gibt es auch an anderen Universitäten interreligiöse oder auch trialogische Studiengänge – etwa in Tübingen –, jedoch handelt es sich beim Luzerner Studiengang um einen abrahamitischen Online-Master in Englisch. Studierende aus aller Welt können, ohne nach Luzern reisen zu müssen, an diesem Studiengang teilhaben und von einigen der namhaftesten Expertinnen und Experten der drei Religionen profitieren.
Wo sehen Sie das Zentrum in zehn Jahren? Bzw. welchen Stellenwert soll es bis dann erreichen?
Ventimiglia: Nach einigen interessanten neuen theologischen Strömungen der Gegenwart, wie derjenigen des so genannten Offenen Theismus, kennt nicht einmal Gott die Zukunft. Woher soll ich das wissen? Scherz beiseite: Aristoteles meinte, dass eine gute Gesellschaft nicht durch gute Pläne, sondern durch gute Menschen geschaffen wird. Die Zukunft dieses Zentrums hängt also von den Personen ab, die hier arbeiten werden. Wenn sie gut sein werden, wird die Zukunft des Zentrums gut und erfolgreich sein.
Toprakyaran: In zehn Jahren sollten am Luzerner Zentrum zahlreiche Forschende aus aller Welt an innovativen interreligiösen Fragestellungen arbeiten. Besonders wichtig ist es, frühzeitig Nachwuchsforschergruppen in die Arbeit des Zentrums einzubeziehen. Denn nur durch intensive multiperspektivische Forschungsarbeit kann gezeigt werden, dass es möglich und auch von grosser gesellschaftlicher und sogar globaler Relevanz ist, ein «gemeinsames Gedächtnis» zu schaffen, wie es Giovanni Ventimiglia immer wieder betont.
Ventimiglia: Ich träume von einem echten Forschungszentrum, wenigen Aperos und vielen Studien. Nur wenn wir eine Finanzierung für eines unserer Forschungsprojekte zum interreligiösen Dialog vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) erhalten haben, werden wir alle zusammen ein Glas Wein trinken gehen.
* Prof. Dr. Verena Lenzen hat ein summarisches Statement beigesteuert.
Martina Kumli ist die Verantwortliche für Kommunikation und Wissenstransfer an der Theologischen Fakultät. Das Interview ist im Jahresbericht 2021 der Universität Luzern erschienen.