Johannes Saal ist von Haus aus nicht religiös. Vielleicht erforscht er gerade deshalb am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik die radikalste Art des Glaubens: den Jihadismus.
«Ich kann es nicht ausstehen, wenn alles herumliegt.» Johannes Saal sitzt am blanken Schreibtisch im Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik der Universität Luzern und entschuldigt sich für die Ordnung. «Hier wird gearbeitet. Aber ich muss immer erst aufräumen.» Seine Literatur horte er aus diesem Grund lieber daheim, wo gerade sowieso Ausnahmezustand herrsche. Grinsen. «Bin vor kurzem Vater geworden.»
Mehr Privates möchte Saal, der Religionssoziologe, nicht preisgeben. Aus beruflichen Gründen ist er vorsichtig geworden, schliesslich forscht er zu kriminellen und gefährlichen Netzwerken. Er beschäftigt sich mit der Jihadismus-Szene, einer militanten extremistischen Strömung des sunnitischen Islamismus. Und sagt: «Man weiss nie.»
Der Berliner spricht lieber über seine Laufbahn: Religion – das sei nie ein Thema gewesen, früher, in seiner Kindheit. Im Gegenteil: In Ostdeutschland war sein Vater aus der Kirche ausgetreten. Auch seine Mutter, die aus einer jüdischen Familie stammt, wollte vom Glauben nichts wissen. Warum die beiden den Namen Johannes für ihn ausgewählt hätten, was «Gott ist gnädig» bedeute, ist ihm ein Rätsel.
Menschen radikalisieren sich oftmals aufgrund ihres sozialen Umfeldes, vor allem durch Geschwister, Partner oder Freunde.
Am Küchentisch wurde nicht über Gott, sondern über die Welt gesprochen. Vielleicht wollte Saal es gerade deshalb wissen: Was Menschen daran faszinierte, warum sie sich strengen Regeln unterwarfen, was ihnen die transzendente Welt gab. Er fing an, einzutauchen, zu beobachten: in Tel Aviv als Zivildienstleistender im jüdischen Altersheim. Oder im Austauschjahr im multikulturellen Istanbul.
In seiner Dissertation zeigte er dank der Förderung des SNF auf, dass jihadistische Radikalisierung und politische Gewalt im Wesentlichen kollektive Phänomene sind: «Menschen radikalisieren sich oftmals aufgrund ihres sozialen Umfeldes, vor allem durch Geschwister, Partner oder Freunde.»
Die Bedrohung gehörte zum Alltag
Seit Beginn des Jahres führt Saal das Thema, wieder mit Unterstützung des SNF, als Postdoc zur jihadistischen Radikalisierung bis zum Jahr 2026 weiter. Er und seine Kolleginnen und Kollegen führen vor allem Netzwerkanalysen aufgrund von Ermittlungs- und Gerichtsakten durch. Ein Teil des Projekts beinhaltet auch eine Inhaltsanalyse salafistischer Predigten und zeigt deren Einfluss auf Radikalisierung auf. Johannes Saal, selber nicht religiös, interessierte sich am Ende also für die radikalste Form, seinen Glauben zu leben: das Selbstmordattentat.
Als sich der Wissenschaftler seinem Forschungsgegenstand zuwendete, war das Thema auch hochaktuell. Terroristische Anschläge gehörten quasi dazu. Beim Zugfahren, auf Sportanlässen und Weihnachtsmärkten oder während Konzerten – bei vielen schwang die Angst immer mit. Doch als sich Covid-19 über die Welt ausbreitete – da wurde es ruhig um die Bombenleger und Messerstecher bei uns. Der islamistische Terror, er schien verschwunden. Putins Krieg in der Ukraine scheint den Jihadismus vollends aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt zu haben.
Der Nachwuchs ist vorsichtiger geworden und zieht sich eher ins Private zurück.
Ist das Forschungsfeld Saals obsolet geworden? Die Extremisten verschwunden? «Nein», sagt er: «Die radikalen Netzwerke sind nicht einfach eingeschlafen.» Das Problem der Radikalisierung sei real. In Zeiten der Unsicherheit und Krise radikalisieren sich sogar mehr Menschen. Laut Saal formiert sich derzeit eine neue Generation: Viele der älteren Jihadisten sind inzwischen verstorben oder inhaftiert worden. Dass die öffentliche Wahrnehmung gerade woanders sei, komme den Jungen entgegen. «Der Nachwuchs ist vorsichtiger geworden und zieht sich eher ins Private zurück.»
Wie er dank seiner Forschung aber weiss, ist die Art und Weise wie sich Menschen radikalisieren im Kern gleich geblieben: «Über das persönliche, das direkte Umfeld.» Nicht der anonyme Chat, das flammende Youtube-Video oder die extreme Website seien entscheidend. Sondern die Kontakte im Quartier, auf dem Schulhof oder in der Moschee. Erst danach holten sich die meist jungen Männer neue Ideen, noch mehr Anerkennung, Gemeinschaft und Mittel über internationale Gruppen via Internet.
Es gibt kaum einen Weg zurück
«Das Missverständnis, dass sich die Leute vor allem im Netz radikalisieren, führt dazu, dass viele Ressourcen dafür aufgewendet werden, es zu regulieren oder digital Gegenmeinungen zu verbreiten. Man müsste die Präventionsmassnahmen anpassen.» Der Religionssoziologe möchte nicht nur im Elfenbeinturm sitzen. Aus seinen Forschungsergebnissen wie sich Menschen radikalisieren kann man Handlungsempfehlungen ableiten.
Man müsste die Präventionsmassnahmen anpassen.
Zum einen sei eine breite politische und mediale Bildung der ganzen Gesellschaft und der besonders gefährdeten Gruppen entscheidend: junge Muslime mit Migrationshintergrund, Menschen auf Identitätssuche, Männer aus problematischen Familien, in denen wenig Wertschätzung zu erfahren ist. Aber auch die religiösen Akteure sind laut Saal wichtig. «Die Moscheen sind ressourcentechnisch oft überfordert von der Jugendarbeit und die Imame werden vom Religionsministerium der jeweiligen Länder eingesetzt. Diese sind oft älter, traditionell, sprechen kaum unsere Landessprachen und haben nichts mit der Lebenswelt der hier aufgewachsenen Männer gemein.» Deren Unzulänglichkeit mache in der Schweiz aufgewachsene, charismatische, salafistische Prediger so attraktiv.
Eine Lösung sei also, in der Schweiz sozialisierte religiöse Autoritäten einzusetzen. «Eine Art Kirchensteuer oder andere staatliche Zuflüsse für Moscheen mit sozialen Diensten würden zudem helfen», so Saal. «So könnten interreligiöse Projekte ausgebaut und die Gläubigen in den gemässigten Moscheen gehalten werden.» Es wären wichtige Investitionen, denn: Ist der radikale Weg erst einmal eingeschlagen, findet kaum einer zurück. «Der Resozialisierungsprozess ist enorm umfangreich.» Denn: Jeder einzelne Aspekt des Lebens wird in der Jihadisten-Szene an religiösen Normen ausgerichtet. Die Schule, die Lehre oder die Arbeit abgebrochen, die Verbindung zu alten Freunden gekappt. Ausserdem sei es – wie für jeden von uns – schwer einzugestehen, dass man seine Jugend vergeudet hat. Aller Lebenssinn sei dann weg, meint Saal. «Was kommt dann?»
Johannes Saal arbeitet als Lehrbeauftragter und Forschungsmitarbeiter Post Doc am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik.
Dieses Porträt erschien erstmals in der Serie «Gesichter der Wissenschaft» auf der Webseite des Schweizerischen Nationalfonds.