Als es zum Volkssport wurde, im Internet zu surfen, gehörte Reto Hofstetter bereits jener Gruppe an, die ganz vorne auf der digitalen Welle ritt. Heute analysiert er als Professor für digitales Marketing unser Verhalten als Konsumentinnen und Konsumenten.

Professor Hofstetter an einem Ort im Uni/PH-Gebäude mit Kunst am Bau an den Wänden, in der Hand ein Handy haltend
Reto Hofstetter, ordentlicher Professor für digitales Marketing. (Bild: Roberto Conciatori)

Reto Hofstetter, Ihr Forschungsfeld befindet sich primär im digitalen Raum. Wie haben Sie diesen Raum «betreten»?

Reto Hofstetter: Ich absolvierte Mitte der 1990er-Jahre eine Informatiklehre bei der Swisscom. Danach baute ich eine eigene Firma auf, mit der wir für diverse Unternehmen digitale Plattformen realisierten. Ziel war es, dass User sich auf diesen Plattformen austauschen und vernetzen konnten. Dies zum Beispiel in Chat-Rooms, User-Foren oder Kommentarspalten. Wir erschufen sozusagen die sozialen Medien, bevor es überhaupt einen Namen dafür gab.

Der digitale Raum hat sich in den letzten 25 Jahren um Welten weiterentwickelt. Was hat sich in Bezug auf Ihr Forschungsfeld, digitales Marketing, besonders verändert?

Die Technik und Plattformen entwickeln sich selbstredend kontinuierlich. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass die rapide forstschreitende Digitalisierung das Forschungsfeld zusehends ins Rampenlicht des öffentlichen Interessens gerückt hat. Wie wir uns im digitalen Raum verhalten und wie wir auf neue Marketingtechniken reagieren, ist heute von immensem Interesse – sowohl für Unternehmen wie auch für Konsumentinnen und Konsumenten.

Dieser Wissensdurst lässt sich etwa an der Liste Ihrer Forschungsprojekte ablesen, die vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurden und werden. So erforschten Sie und Ihr Team mit Unterstützung des Bundes etwa die Mechanismen des Teilens von persönlichen Informationen im Internet.

Das Teilen von persönlichen Informationen im Netz ist für die meisten von uns zum Alltag geworden. Die bisherige Forschung dazu fokussierte sich grösstenteils darauf, die Gründe fürs Teilen solcher Informationen zu beleuchten. Im Rahmen unserer Projekte werden hingegen beide Seiten der Online-Kommunikation beleuchtet – also nicht nur diejenige des «Sharers», der Informationen auf sozialen Netzwerken teilt, sondern auch die Seite des «Observers», also des Empfängers respektive der Empfängerin.

Paradoxerweise teilen wir trotz Hinterfragung der Praxis von Firmen mehr Informationen denn je.
Reto Hofstetter

Ein nach wie vor brandaktuelles Thema …

In den vergangenen Jahren wird immer mehr hinterfragt, wie Firmen mit den Informationen umgehen, die wir online teilen. Paradoxerweise teilen wir gleichzeitig mehr Informationen denn je.

Es ist aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie interdisziplinär Ihr Forschungsfeld ist?

Ja. Denn um unser Online-Verhalten nachvollziehen zu können, bedarf es zum einen des technischen Know-hows, um die kommerzielle Funktionsweise von Plattformen wie Instagram oder Tiktok zu verstehen. Zum anderen sind aber auch Kompetenzen in Sozial- und Motivationspsychologie und Entscheidungsverhalten gefragt.

Bleiben wir doch noch bei der Motivation für das Teilen von persönlichen Informationen im Internet. Wie hat sich diese über die Jahre verändert?

In den frühen Jahren sozialer Medien tauschten in erster Linie spezifische Interessengruppen Informationen untereinander aus. Beispielsweise die Windsurfer-Community, die schon früh Bilder und Erfahrungen mit Gleichgesinnten teilte. Teilweise wegen des Gemeinschaftsgefühls, das so gefördert wurde – aber schlicht auch, um im Gegenzug ebenfalls an Informationen über interessante Surf- Spots oder andere Themen zu gelangen.

Und heute?

Heute ist es ein breiter Mix an Motiven, der jemanden dazu bewegt, Persönliches online zu teilen. Ein Faktor ist etwa der sogenannte «Audience Effect» – also der Einfluss auf das eigene Verhalten, wenn man online ein Publikum findet. Nicht selten wird hier der Narzissmus beflügelt. Wie das Phänomen des Influencer-Marketings auf Instagram oder Tiktok jedoch beweist, kann dieser Narzissmus auch monetarisiert werden.

Finanzielle Motive scheinen generell ein immer stärkerer Faktor bei der Entscheidung zum Teilen von Informationen zu sein.

Ja, aber diese Entwicklung sehe ich nicht per se als negativ. Freischaffende Künstlerinnen und Künstler können beispielsweise ganz neue Einnahmequellen generieren, um Projekte zu realisieren oder Ausfälle zu kompensieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Während des Corona-Lockdowns konnten Bühnenkünstlerinnen und -künstler beispielsweise auf Plattformen wie «Patreon» zurückgreifen. Die Plattform erlaubt es Usern mittels regelmässiger Zahlungen direkt bei Kreativen eine Form von Abo zu lösen. Kreative können mit diesen Einnahmen einen Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten und neue Projekte finanzieren. Im Gegenzug teilen sie exklusive Inhalte oder Hintergrundinformationen mit den sie Unterstützenden.

Beispiel einer «Augmented Reality»-Anwendung: Auf Handy wird visuell angezeigt, wie ein neues Möbel in einem bestehenden Wohnzimmer aussehen würde.
Unter anderem befasst sich Professor Hofstetter in seiner Forschung mit «Augmented Reality»-Anwendungen. (Bild: ©istock.com/AndreyPopov)

Apropos Motivation: Was führte zur Errichtung des Instituts für Marketing und Analytics (IMA) an der Universität Luzern, das Sie mitgegründet haben und dessen Direktor Sie sind?

Forschende im digitalen Bereich sind mit einer sehr spezifischen Herausforderung konfrontiert: Zeit. Universitäten betreiben in erster Linie Grundlagenforschung. Diese Arbeit ist natürlich essenziell wichtig, es kann dabei jedoch Jahre dauern, bis Erkenntnisse publiziert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Den teilweise extrem schnelllebigen Internet-Hypes hinkt man so hoffnungslos hinterher. Genau hier versuchen wir mit dem IMA den Spiess umzudrehen.

Der vom IMA publizierte «Swiss Influencer Marketing Report» – einer von verschiedenen «Swiss Consumer Studies» – wäre ein gutes Beispiel dafür.

Dieser Report wertet eine umfassende Umfrage in drei Sprachregionen der Schweiz aus. 218 Marketingverantwortliche, 124 Influencerinnen und Influencer sowie 1007 Millennials nahmen daran teil. Beleuchtet wird unter anderem die die Frage, wie Verträge und Aufträge mit Influencerinnen und Influencern ausgestaltet werden sollten, um deren Potenzial möglichst auszuschöpfen.

Das Ziel des IMA ist es auch, die gewonnenen Erkenntnisse direkt in die Praxis einfliessen zu lassen. Ist dies gelungen?

Ja – und das auch regional. Nutzniessende unserer Erkenntnisse sind nämlich nicht zuletzt Firmen, die in der Zentralschweiz angesiedelt sind. Ein Beispiel wäre das in Luzern domizilierte Unternehmen Heineken, das sein neustes Produkt praktisch exklusiv mittels Influencern vermarktet.

Wir können aktuell nicht über den digitalen Raum sprechen, ohne die Blockchain-Technologie und die damit verbundenen Begriffe wie «Kryptowährung» oder «NFTs» zu thematisieren. Gerade mit NFTs wird derzeit rege gehandelt. Und wo gehandelt wird, spielt auch Marketing eine Rolle, oder?

Wie Marketing in dieser «Krypto-Welt» funktioniert, ist ein noch sehr junges Forschungsfeld. Unser Institut gehört in diesem Diskurs weltweit ganz klar zu den führenden Stimmen. So haben wir vergangenes Jahr etwa die erste «International Conference on Crypto-Marketing» organisiert. Die Fachkonferenz ist eine Zusammenarbeit zwischen der Universität Luzern und der renommierten Columbia Business School in New York. Nachdem die Premiere vergangenes Jahr in Luzern stattfand, wird die zweite Ausgabe diesen Dezember in New York ausgetragen.

Gerade während der Covid-Zeit erhielten Augmented-Reality-Anwendungen enormen Auftrieb

Im Fokus der Fachkonferenz stehen technische Innovationen und deren Auswirkungen auf Nutzende und Unternehmen. Das scheint auch für Sie selbst Gültigkeit zu haben.

Mich hat schon immer fasziniert, wie mit kleinen, aber wirkungsvollen Innovationen ein kleines Geschäft plötzlich auf internationale Grösse hochskaliert werden kann.

Ihre Arbeit zu «Augmented Reality»-Anwendungen – also solchen, bei denen digitale Elemente auf dem Bildschirm eines Smartphones oder Tablets in die reale Welt eingefügt werden – wäre ein Beispiel dafür.

Gerade während der Covid-Zeit erhielten diese AR-Anwendungen enormen Auftrieb. Ein Beispiel: Als es unmöglich wurde, physisch eine Zimmerpflanze kaufen zu gehen, wurden vermehrt AR-Anwendungen genutzt. Etwa um eine Vorschau zu generieren, wie eine bestimmte Pflanze im Wohnzimmer oder Büro wirken würde, die man dann vom Online-Floristen bestellen konnte. Wie es aktuell um das Thema AR in der Schweiz steht, kann man im Übrigen auch dem «Swiss Augmented Reality Barometer» entnehmen, den das IMA veröffentlicht.

Bei aller Begeisterung über Innovationen und neue Anwendungen scheinen Sie dennoch kein unkritischer Tech-Apostel zu sein. So beleuchten Ihre Forschungsprojekte praktisch immer auch das negative Gefahrenpotenzial solcher Neuerungen. Wie sehen Sie den digitalen Raum heute?

Im Grundsatz bleibt er ein positiver Raum. Für die Produktivität in der Forschung, beispielsweise mit Blick auf den direkten Austausch via Videochats, ist er ein absoluter Segen.

Inwiefern ein Segen?

Was früher lange Korrespondenzen erforderte, kann heute unkompliziert und schnell besprochen werden. Das Tempo der Forschung – in praktisch allen Gebieten – hat sich dadurch enorm erhöht. Deshalb sehe ich die Forschung in der Pflicht, weiterhin eine Vorreiterrolle einzunehmen und aufzuzeigen, wie das Netz nachhaltig positiv genutzt kann.
 

Extra: Einblick ins Büro von Professor Reto Hofstetter

Digitalisierung im Blick

Illustration einer Frau mit einer VR-Brille, die damit eine Landschaft sieht
(Symbolbild; ©istock.com/Alina Spiridonova)

Wie wird das Konsumentenverhalten durch Suchmaschinen verändert? Welche ethischen Herausforderungen gehen mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz einher? Inwiefern wird die Demokratie durch Algorithmen beeinflusst? Was vermag die digitale Medizin und wo liegen ihre Grenzen? Fördern Plattformen wie Amazon und eBay den Wettbewerb oder ist das Gegenteil der Fall? Wie kann freier Datenfluss und das Ermöglichen von Innovation mit dem Schutz sensibler Daten in Einklang gebracht werden? Die fortschreitende digitale Transformation durchdringt sämtliche Lebensbereiche und bringt massgebende Umwälzungen mit sich. Entsprechend ist die Forschung gefordert – und eben gerade auch der Bereich der Humanwissenschaften, auf die sich die Universität Luzern spezialisiert hat.

Zahlreiche Aktivitäten

Bei der Digitalisierung handelt es sich um einen, neben Gesundheit, von zwei Megatrends, die universitätsweit bearbeitet werden und denen, neben den beiden neu geplanten Fakultäten, besonderer Stellenwert beigemessen wird. Es existieren bereits diverse Initiativen in diesem Bereich: So ist Luzern beim von swissuniversities geförderten Kooperationsprojekt «Stärkung von Digital Skills in der Lehre» dabei. Auch lässt sich seit drei Jahren der international angelegte «Lucerne Master in Computational Social Sciences» (LUMACSS) studieren. Und während sich – nur, um Beispiele zu nennen – Mira Burri, Professorin für Internationales Wirtschafts- und Internetrecht, und Sophie Mützel, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Medien und Netzwerke, auf rechtswissenschaftliche bzw. soziologische Weise mit «Big Data» befassen, legt etwa Peter G. Kirchschläger, Professor für Theologische Ethik, den Fokus auf ethische Aspekte der Digitalisierung. Nicht zuletzt ist im Kanton Zug die Errichtung eines An-Instituts für Blockchainforschung vorgesehen.

Um das bestehende Knowhow zu bündeln, ist mittelfristig die Schaffung eines «Lucerne Center for Digital Innovation» geplant. Alexander H. Trechsel, Prorektor Forschung und Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Kommunikation, der mit dem Aufbau des Zentrums betraut ist, sagt: «Es geht darum, die notwendigen Weichen zu stellen, um die in Forschung und Lehre dringend benötigte nachhaltige Kompetenzen für Digitalisierung weiter auszubauen.» Zum einen sei die dadurch entstehende Expertise für die Schweizer Hochschullandschaft von grosser Bedeutung, zum anderen werde Innovation gefördert. «Davon profitiert auch der Wirtschaftsraum Zentralschweiz – nicht zuletzt in Form von gut ausgebildeten Expertinnen und Experten.»