Ein Team von Forschenden an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät hat untersucht, wie sich die Kaufbereitschaft verändert, wenn ein Produkt mit Augmented Reality betrachtet wird. Dabei kommen psychologische Mechanismen zum Tragen.

Professor Leif Brandes (Mitte) mit David Finken (r.) und Thomas Scheurer (Bild: Silvan Bucher)

Augmented Reality (dt. «Erweiterte Realität»; AR): Seit einigen Jahren kommt diese Technologie unter anderem bei der Präsentation von Produkten in Online-Shops zum Einsatz. So ist es für Kundinnen und Kunden möglich, diese zum Beispiel mit ihrer Handykamera in Echtzeit dreidimensional in einer realen Umgebung zu betrachten, und zwar in den originalgetreuen Massen. So kann virtuell etwa ein Laptop auf den eigenen Schreibtisch gestellt oder plastisch beurteilt werden, wie ein Sofa im eigenen Wohnzimmer aussieht. Zusammen mit David Finken (inzwischen ETH Zürich), Thomas Scheurer und Reto Hofstetter hat Leif Brandes, Ordentlicher Professor für Marketing & Strategie, zur Thematik die Studie «Buyer, Beware: Augmented Reality Product Display increases Consumer Preferences for inferior but not for superior Products» (Arbeitstitel) durchgeführt. Die Studie ist Teil des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts «Augmented Away: The Effects of Consumers’ Immersion in Augmented Reality on Brand Preference, Perception, and Choice».


Leif Brandes, was haben Sie herausgefunden?

Leif Brandes: AR ruft eine systematische Verzerrung bei der Beurteilung von Produkten verschiedener Qualitätsstufen hervor. Wir haben die Unterschiede in der Wahrnehmung verglichen, wenn sich jemand ein Produkt in 2D – also so, wie wir das alle kennen – anschaut und wenn dasselbe Produkt mit AR betrachtet wird. Dazu wies jedes Produkt zwei verschiedene Qualitätsstufen auf. Man kann sich das so vorstellen: Ich habe zum einen zum Beispiel einen relativ leistungsstarken Laptop mit 16 Gigabyte Arbeitsspeicher (RAM), zum anderen einen gleich aussehenden, aber mit nur 4 Gigabyte RAM. Uns interessierte die Frage, ob sich die Wahrnehmung von einem guten oder schlechten Produkt verändert, wenn es mit AR betrachtet wird. Wir stellten fest, dass die Kaufwahrscheinlichkeit und -bereitschaft für ein gutes Produkt gleich hoch bleibt, egal, ob ich mir dieses mit einem 2D-Bild oder mit AR anschaue. Aber für das schlechte Produkt ist die Kaufbereitschaft signifikant höher, wenn es mit AR betrachtet wird.

Sie erklären diesen Unterschied mit dem Phänomen des psychologischen Besitzes – was ist damit gemeint?

Oft definieren wir uns auch über Dinge, die uns gehören. Welche Kleidung ich trage, sagt etwas darüber aus, wer ich bin. Eine Person mit einer Gucci-Tasche will etwas anderes ausdrücken als eine Person mit einer Tasche von H&M. Wir stellen einen Bezug zwischen unserer Identität her und den Sachen, die wir besitzen. Interessant wird es, wenn ich ein Produkt besitze, das qualitativ nicht so gut ist. Dann habe ich ein Problem, weil wir Menschen die Tendenz haben, ein positives Selbstbild aufrechthalten zu wollen. Daher strebe ich danach, diese Bedrohung für mein Selbstwertgefühl auszuschalten, diesen psychischen Stress abzubauen. Und das ist genau das, was wir im Zusammenhang mit AR sehen. Denn AR gibt uns das Gefühl, etwas zu besitzen, weil wir es – wenn auch nur virtuell – in unserer eigenen Umgebung betrachten können, so, als ob es uns effektiv bereits gehören würde. Dadurch nehmen wir ein schlechtes Produkt als besser wahr, wenn wir es mit AR betrachten.

AR gibt uns das Gefühl, etwas zu besitzen.
Leif Brandes, Professor für Marketing & Strategie

Es ist quasi ein psychischer Verteidigungsmechanismus?

Genau. Es gibt viele andere Prozesse, die etwas Ähnliches zeigen. Wenn man beispielsweise eine schlechte Note in einer Wirtschaftsprüfung hat und dann als Kompensation den «Economist» liest. Damit kompensiert man das Gefühl der Unterlegenheit und kann innerlich zu sich selbst sagen: «Du bist aber schlau, du liest ja den ‹Economist›.»

Wie stark ist dieser Verzerrungseffekt, den AR verursacht?

Wir haben gesehen, dass es zwischen dem guten und dem schlechten Produkt signifikante Unterschiede bei der Kaufintention gibt, wenn diese Produkte als herkömmliche 2D- oder 360-Grad-Bilder angeschaut werden. Aber beim Betrachten mit AR ist dieser Unterschied komplett weg. Das ist schon bemerkenswert. Wir haben im Rahmen unserer Studie auch Experimente gemacht, bei denen die Teilnehmenden für einen Lautsprecher echtes Geld bezahlen mussten. Dabei zeigte sich, dass die Zahlungsbereitschaft für das schlechtere Produkt mit AR höher ist, als wenn sie es als 2D-Bild sehen.

Soll ein Anbieter von qualitativ höher stehenden Produkten deshalb auf AR verzichten?

Nicht unbedingt. Wir müssen unterscheiden, wo AR-Technologie eingesetzt wird. Etwa ein Online-Einzelhändler wie Amazon bietet Produkte verschiedener Qualitätsstufen an. Wenn Kundinnen und Kunden die Möglichkeit gegeben würde, Produkte mit AR zu evaluieren, dann würde dies tatsächlich den schlechteren Produkten eher helfen. Dem besseren Produkt schadet AR per se nicht, es reduziert jedoch den wahrgenommenen Qualitätsunterschied zwischen dem guten und schlechten Produkt. Insofern ist AR deshalb keine unschuldige Technologie, die den Menschen bei der Entscheidungsfindung hilft. Unsere Studie zeigt, dass es durchaus Situationen gibt, wo man als Konsumentin oder Konsument dazu verleitet werden kann, ein schlechtes Produkt gut zu finden.

Insofern ist AR deshalb keine unschuldige Technologie
Leif Brandes, Professor für Marketing & Strategie

Werden Anbieter von qualitativ schlechteren Produkten deshalb eher auf AR-Technologie setzen?

Kurzfristig ist es schon so, dass dies einen positiven Effekt auf die Verkaufszahlen haben könnte. Wir haben in unserer Studie jedoch die langfristigen Folgen nicht untersucht. Es könnte sein, dass bei schlechten Produkten daraus eine höhere Umtauschrate resultiert, was wiederum erhebliche Kosten für den Hersteller bedeuten würde.

Ich bin auf der Suche nach einem neuen Sofa. Soll ich vor dem Kauf lieber die Finger von AR-Projektionen in mein Wohnzimmer lassen?

Ein Sofa ist ein etwas anderes Produkt als jene, die wir untersucht haben. Wir haben uns auf Produkte konzentriert, die eine objektive Qualitätsrangierung aufweisen, wie die genannten Laptops mit verschieden grossem Arbeitsspeicher. Bei einem Sofa stehen Design und Farbe im Vordergrund. Es kann gut sein, dass wir diese subjektive Komponente in Zukunft genauer untersuchen werden.

Wo sehen Sie das grösste Potenzial in der Produktdarstellung mit AR?

Ein wesentlicher Vorteil von AR ist, dass man ein Produkt im Kontext betrachten kann, wie eben bei einem Möbel. Auch beispielsweise bei einer Sonnenbrille kann AR den Kaufentscheid erleichtern, indem man dadurch die Grössenordnung des Produkts besser einschätzen kann und mit diesem schliesslich zufriedener ist. Dadurch kann sich auch die Umtauschrate einiger Produkte verringern, was im Zuge der dadurch selteneren Retouren eine Reduktion der Emissionen mit sich bringt. Wenn AR also eine bessere Entscheidungsgrundlage für Konsumentinnen und Konsumenten bietet, ist das ein grosser Vorteil.

Welche Aspekte Ihrer Untersuchung möchten Sie noch vertiefen?

Spannend finden wir, dass die Wahrnehmungsverzerrungen nicht nur bei visuellen Produkten vorhanden waren. Wir haben Probandinnen und Probanden beispielsweise Lautsprecher mit AR gezeigt, die mittels dem dafür verwendeten Smartphone Musik mit unterschiedlich guter Tonqualität abspielten. Man könnte vielleicht denken, dass beim Betrachten mit AR eher visuelle Aspekte dominieren und etwas wie Audio eher in den Hintergrund treten würde. Tatsächlich aber erkannten wir auch hier Verzerrungen in der Qualitätswahrnehmung eines Produkts. Auch der Einfluss von AR auf Produktbewertungen bietet viele Möglichkeiten für weitere Untersuchungen. Beispielsweise ob AR einen Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem Produkt hat. Das ganze Forschungsfeld rund um AR ist noch ziemlich am Anfang. Es existieren also zahlreiche spannende Aspekte, die man vertiefen könnte.

Neue Technologien stellen einen Ihrer Forschungsschwerpunkte dar. Abgesehen von AR, welche Technologie wird unser Kaufverhalten in Zukunft am meisten beeinflussen? Stichwort: Künstliche Intelligenz (KI) …

Was am meisten Einfluss haben wird, ist schwierig zu sagen. Ich denke jedoch, dass KI sicherlich ein wichtiger Einflussfaktor werden wird. In Zukunft werden uns dadurch viel mehr personalisierte Entscheidungsumgebungen gegeben werden. Wir beobachten das bereits bei vielen Online-Einzelhändlern, die einem aufgrund der persönlichen Kaufhistorie andere Produkte zeigen. Man könnte nun einwenden, dass dies Manipulation sei, aber es hat natürlich auch das Potenzial, mir als Konsument bei der Entscheidungsfindung zu helfen. Ich möchte ja nicht zwischen 50 Produkten auswählen müssen, wenn der Verkäufer weiss, was ich eigentlich mag. Dann habe ich auch kein Problem damit, wenn diejenigen 48 Produkte herausgefiltert werden, die für mich nicht infrage kommen. Es gibt daher Anwendungsfälle, die letztlich eine Win-Win-Situation darstellen.
 

Die Ergebnisse der Studie «Buyer, Beware: Augmented Reality Product Display increases Consumer Preferences for inferior but not for superior Products» (Arbeitstitel) werden als Aufsatz in einem Fachjournal veröffentlicht werden – zurzeit ist der Peer-Review-Prozess am Laufen.
 

Das Interview ist im Jahresbericht 2023 der Universität Luzern erschienen.