Zunächst Sinnbild für die republikanische Freiheit, dann Ausdruck der Ergebenheit gegenüber den Herrschaften: Geschichtsprofessor Jon Mathieu zeichnet diesen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erfolgten Wandel mit seinen Forschungsmitarbeiterinnen nach.
Jon Mathieu, das neu erschienene Buch «Majestätische Berge» ist Ihr sechstes Buch zur Geschichte der Alpen. Königinnen und Könige spielten in Ihrem Alpenkosmos bislang keine prominente Rolle. Wie gelangten sie nun in Ihre Arbeit?
Jon Mathieu: Die Idee dazu kam von einer alten Irritation. 1985 hörte ich an einem Kongress in Graz zum ersten Mal von der Alpenbegeisterung von Erzherzog Johann von Österreich, dem legendären Bruder des damaligen Kaisers. Diese monarchische Begeisterung wollte nicht recht zur republikanischen Version passen, mit der ich als Schweizer aufgewachsen war. Das machte mich neugierig. Heute finde ich auch grundsätzlich, dass die Bedeutung der Monarchen im 19. Jahrhundert historisch unterschätzt wird. Dabei war die Schweiz ja umgeben von Monarchien!
Eva Bachmann: Auch in der italienischen Geschichtsschreibung, mit der ich mich befasst habe, ist die Monarchie eine ziemliche Forschungslücke.
Mathieu: Wir haben die Idee in unseren Köpfen, dass die Französische Revolution die Monarchie als Staatsform definitiv gekippt habe. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die Revolution hing zwar wie ein Damoklesschwert über den Königshäusern, aber eigentlich war das Ende des Ersten Weltkriegs für die europäischen Monarchien einschneidender als die Französische Revolution.
Das vom Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt trug den Titel «Majestätische Berge?». Im Titel des Buches, das dessen Ergebnisse bündelt, ist das Fragezeichen weggefallen. Hat sich die Frage geklärt?
Bachmann: Meine Fallstudie zum britischen und zum italienischen Königshaus und auch jene von Ursula Butz, der zweiten Forschungsmitarbeiterin, zu Monarchie und Tourismus in den Ostalpen zeigen klar, dass die Präsenz der Monarchen in den Alpen im 19. Jahrhundert zunahm. Kaiser Franz Joseph I., ab 1848 Kaiser von Österreich, beispielsweise liebte die Hochwildjagd und verbrachte die Sommermonate nicht in Wien, sondern mit Vorliebe im Salzkammergut in Ischl.
Mathieu: Auch das italienische Königshaus verlegte seine Jagdgebiete in die Alpen, vor allem ins Aostatal. Vittorio Emanuele II., ab 1861 erster König von Italien, wurde als «Re Cacciatore» bezeichnet, als «Jägerkönig». Von der Bevölkerung wurden die Mitglieder des Königshauses jeweils feierlich empfangen, und zwar mit «untertänigen Bergler-Herzen», wie es in einem Zeitungsbericht von 1903 heisst – eine für Schweizer natürlich schwer zu verdauende Aussage. Bei der Wahl des Buchtitels hat aber auch der Verlag mitentschieden, der grundsätzlich keine Fragezeichen im Titel mag.
Gibt es auch «majestätische Meere» oder sind die Alpen in dieser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung?
Bachmann: Die Reisetätigkeit der Königinnen und Könige war ganz unterschiedlich. Queen Victoria zog sich in den Sommer- und Herbstmonaten in ihr Schloss Balmoral im schottischen Hochland zurück, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes Albert 1868 erstmals nach Luzern und in die Alpen reiste. Später besuchte sie aber auch Kurorte am Meer, etwa in Südfrankreich. Für Vittorio Emanuele II. spielte das Meer hingegen kaum eine Rolle. Sein Herz schlug für den Norden Italiens und die Berge. Spätere Generationen der italienischen Königsfamilie unternahmen aber beispielsweise auch Kreuzfahrten auf dem Meer.
Mathieu: Die sogenannte «Meereslust» spielte bei Mitgliedern der Monarchie eine erhebliche Rolle. Ein Unterschied ist aber, dass die Küsten und Meere deutlich weniger politisch konnotiert sind als die Alpen, die immer auch ein Grenzraum waren zwischen verschiedenen Nationen und teilweise politischen Konzeptionen.
Der Blitz schlägt 1796 in den goldenen Tellenapfel auf der Spitze eines Freiheitsdenkmals in Luzern ein, eine politische Gruppierung spielt 1834 eine Partie Boule auf dem französischen Mont Aiguille: Der Ton des Buches ist sehr erzählerisch. Ist das ein Stilmittel oder auch eine Forschungsmethode?
Bachmann: Für mich ist es eine Mischung aus beidem. So oder so darf man als Historikerin nicht Partei ergreifen. Doch man kann die Stimmen der historischen Akteurinnen und Akteure auswählen.
Mathieu: Die Vielfalt der Stimmen ist sehr wichtig für eine historische Arbeit. Sie macht ein Buch lebendig und deutet an, dass in historischen Prozessen in der Tat viele mitreden. Durchaus auch in Monarchien.
Sie beschreiben im Buch für das 19. Jahrhundert einen Wandel von republikanischen hin zu monarchischen Alpen. Wie verhalten sich die beiden Alpenkonzeptionen zueinander?
Mathieu: Ab etwa 1760 nehmen die Reisen in die Schweiz und ihre Berge massiv zu. Dieser frühe Alpentourismus interessierte sich aber fast nur für das kleine Gebiet zwischen Chamonix und Luzern. Dieser Raum war republikanisch besetzt: Es waren die «Wilhelm-Tell-Alpen». Ab etwa 1820 begannen sich dann auch die Monarchen stärker für die Alpen zu interessieren und die Lage wurde komplexer. Im Tirol entstand um den Freiheitskämpfer Andreas Hofer ein regelrechter Kult, den man als monarchischer Gegenkult zu Tell verstehen kann.
Bachmann: Und in Italien entstand – in etwas geringerer Intensität als bei Tell und Hofer – ein Kult um den «Jägerkönig» Vittorio Emanuele.
Die Figur des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer spielt im Buch eine wichtige Rolle. In der Schweiz ist er aber kaum bekannt. Wer war dieser Andreas Hofer?
Mathieu: Andreas Hofer war ein Anführer des Tiroler Widerstands gegen das napoleonische Regime der Bayern und Franzosen im Jahr 1809. Das Wichtige bei Hofer ist für uns aber weniger seine Biografie als der Kult um seine Person, der nach seinem Tod entstand. Hofer entwickelte sich in Österreich postum zum Superhelden. Das 100-Jahre-Jubiläum des Aufstands 1909 wurde mit einem unglaublichen Aufwand gefeiert. Die Tiroler betrieben den Hofer-Kult mit einer Ernsthaftigkeit und Intensität, wie es mit Tell in der Schweiz selten der Fall war. Über Wilhelm Tell konnte man in der Schweiz schon in den 1970er-Jahren mit ironischer Distanz schreiben, in Österreich über Hofer besser nicht. Eine kritische Literatur zu Hofer entstand eigentlich erst nach der Jahrtausendwende.
Zum Schluss ein Gedankenspiel: Angenommen, Wilhelm Tell und Andreas Hofer treffen sich in der Gegenwart auf einer Wanderung in den Alpen – was hätten sie miteinander zu besprechen?
Mathieu: Sie könnten über Staatsformen diskutieren, zum Beispiel über die heutige Demokratie.
Bachmann: Oder auch über Steinböcke und die Alpen als Naturschutzzonen.
Multinationale Studie
«Majestätische Berge? Monarchie, Ideologie und Tourismus im Alpenraum 1760–1910»: Im Rahmen dieses vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts verfassten die Historikerinnen Eva Bachmann und Ursula Butz ihre Dissertationen. Jon Mathieu, (per Ende Juli 2018 emeritierter) Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit, initiierte und leitete das Projekt. Das Team untersuchte die Verbindung von Monarchie, Alpenideologie und Tourismus anhand der europäischen Königshäuser von Grossbritannien, Savoyen/Italien und Österreich im Gebiet des ganzen Alpenraums. In Co-Autorschaft veröffentlichten Mathieu, Bachmann und Butz nun ein Buch zum Thema, das die wichtigsten Ergebnisse ihrer Forschung zusammenfasst. Erschienen ist das schlanke und reich illustrierte Werk «Majestätische Berge. Die Monarchie auf dem Weg in die Alpen 1760–1910» im Badener Geschichtsverlag Hier und Jetzt. (hn)