Über die Vollverhüllung in der Schweiz wird emotional debattiert. Religionswissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti zeigt Fakten auf und bezieht auch eine bislang vernachlässigte Perspektive mit ein: diejenige der betroffenen muslimischen Frauen.
Andreas Tunger-Zanetti, im März stimmen wir über ein landesweites Verhüllungsverbot ab. Betreiben Sie mit der Studie, an der mehrere Ihrer Studierenden mitgearbeitet haben, Meinungsmache?
Andreas Tunger-Zanetti: Nein, es handelt sich vielmehr um empirische Forschung zu einem Thema, das in der Gesellschaft vorhanden ist. Wir lösten uns vom täglichen Newsfluss und schauten tiefer und gründlicher hin. Wir freuen uns aber, wenn unsere Ergebnisse Eingang in die Diskussionen zur Abstimmung finden. Den Auftakt bildete ein im Frühjahrssemester 2020 durchgeführtes Seminar zum Thema. Dieses mündete in eine Studie, die nun seit Kurzem als Buch vorliegt. Unsere Arbeit schliesst an die Forschung in anderen westeuropäischen Ländern an.
Zwei Bereiche wurden beleuchtet: einerseits die Debatte über die Vollverhüllung in den Deutschschweizer Medien, andererseits die effektive Situation in der Schweiz. Da zeigte sich, dass es kaum Frauen mit Gesichtsschleier gibt. Hat Sie das überrascht?
Es handelt sich um etwa dreissig Frauen, die einen Nikab, also einen Schleier, der das komplette Gesicht bedeckt und nur die Augen frei lässt, tragen. Das sind etwas mehr, als ich erwartet hatte, aber deutlich weniger als rund hundert, wie bislang von verschiedener Seite gemutmasst wurde. Die typisch afghanische Burka hingegen, ein Ganzkörperschleier mit eingelassenem Sichtfenster, ist überhaupt nicht anzutreffen, obwohl dieses Wort in den Medien so oft vorkommt.
Was weiss man über diese Frauen?
Wir haben eine von ihnen befragen können – ihre Auskünfte stimmen in sehr vielen Punkten mit denjenigen von vollverschleierten Frauen in besser erforschten Ländern Westeuropas überein. Diese verstehen das Tragen des Gesichtsschleiers gemeinhin als freiwilligen Akt der Frömmigkeit im Wunsch, sich besonders gottgefällig zu verhalten. Zugleich ist da ein gewisses Unbehagen im öffentlichen sozialen Raum, eine besondere Sensibilität für das eigene Erscheinungsbild und der übersteigerte Wunsch, dieses in der Öffentlichkeit zu schützen. Es geht also um eine Mischung aus Frömmigkeit und Körpergefühl. Auch eine Dosis Protest gegen die freizügige westliche Gesellschaft ist oft dabei. Die bekannte, inzwischen verstorbene Konvertitin Nora Illi hat das deutlich artikuliert. Interessant ist, dass die Frauen oft erst im Alter von etwa 20 Jahren beginnen, ihr Gesicht zu verhüllen, und manche diese Praxis nach ein paar Jahren wieder aufgeben. Sie leben zudem verstreut und sind nicht organisiert.
Wenn es vollverhüllte Frauen in der Schweiz kaum gibt, warum ist die Debatte über ein Verbot derart aufgeheizt?
Interessant ist ja, dass an den Debatten meist weder Frauen mit Gesichtsschleier noch andere Musliminnen oder Muslime beteiligt werden. Das zeigt, dass es im Grunde gar nicht um die betroffenen Personen geht, sondern darum, eine bestimmte Vorstellung von unserer Gesellschaft durchzusetzen.
Warum finden die Debatten ohne die Hauptfiguren statt?
Es ist bequem, über Abwesende zu diskutieren. So kann man unwidersprochen das Bild einer vollverhüllten Frau zeichnen, die aus einem «rückständigen» Land kommt und kaum integriert ist. Oder von Frauen, die so fanatisch sind, dass sie über ihre Kleidung ihre extremistische Sicht zur Schau stellen. Die empirische Forschung kommt zu ganz anderen Befunden: Frauen, die in Westeuropa den Gesichtsschleier tragen, sind meist hier aufgewachsen, gut ausgebildet und werden auch nicht von ihren Männern dazu angehalten, sich so zu kleiden. Trotzdem herrschen solche Bilder vor. Weder die Forschung noch die betroffenen Frauen werden aber in die Diskussion miteinbezogen.
Worum geht es denn wirklich?
In der Debatte wird alles auf die Varianten «schlechte Integration», «Unterdrückung» und «Fanatismus» reduziert. Es geht einzig noch darum, ob ein Verbot tauglich ist oder nicht. Dahinter steckt ein Ringen um eine bestimmte Sicht von der Gesellschaft. Plakativ gesagt, will die eine Seite nur bestimmte kulturelle Prägungen zulassen und die andere möchte, dass alles möglich ist, solange es niemandem schadet. Die Fronten verlaufen nicht immer gleich.
Auch wenn die Debatte demzufolge an der hiesigen Realität vorbeigeht: Ist es nicht verständlich, dass die Bedenken gegenüber konservativ-islamischen Kräften und dem real existierenden islamistischen Terror gross sind?
Absolut. Aber wir müssen die Dinge genauer kennen und auseinanderhalten, um angemessen reagieren zu können. So war es hierzulande bis zur Corona-Pandemie ungewohnt, auf der Strasse verhüllte Gestalten zu sehen. Schon davor störte es uns etwa auf der Skipiste jedoch nicht. So oder so gibt es in der Schweiz keinen objektiven Grund, sich vor einer Frau mit Gesichtsschleier zu fürchten. Die Angst ist subjektiv, bedroht ist höchstens das eigene Weltbild. Objektiv gesehen sind es die verhüllten Frauen, die Grund zur Sorge haben. Immer wieder erleben sie Angriffe, auch physische.
Trotzdem: Ist es nicht zu einfach, die Bedenken einfach als «Zerrbilder» abzutun?
Terrorismus bleibt Terrorismus, auch wenn er sich auf den Islam beruft, und ist mit geeigneten Mitteln zu bekämpfen. Ein Verhüllungsverbot trägt nichts dazu bei. Die Bedenken speisen sich stark aus einer Verunsicherung im Umgang mit Religion allgemein. Unsere eigene religiöse Praxis ist stark verblasst und wird kaum noch gelebt. Konfrontiert mit einer scheinbar unerschütterlichen Religiosität, sind wir verunsichert. Oft fehlen beim Reden darüber zudem die angemessenen Begriffe. Was ist gewaltbereiter Extremismus, was sind ungewohnte, aber harmlose Ausprägungen von Religiosität – dorthin gelangt die Debatte so gut wie nie.
Durch die Verhüllungsverbot-Initiative werden junge Musliminnen und Muslime, die sich vorher noch nie mit ihrer Religion beschäftigt hatten, genau dazu gedrängt, dies nun zu tun.
Ein wichtiger Punkt sind auch die Geschlechterverhältnisse. Das Frauenbild in konservativ-islamisch geprägten Gesellschaften ist weit von unserem liberalen Weltbild entfernt. Ist es nicht verständlich, dass wir dem kritisch gegenüberstehen?
Klar, gewisse Ausprägungen möchte hier niemand, inklusive der allermeisten Musliminnen und Muslime. Aber in den Diskussionen dominieren Extrembilder: hier die westliche Welt, in der Mann und Frau gleich sind und angeblich alles bestens ist, dort der Islam, in dem die Frau als komplett rechtlos und vom Mann unterdrückt dargestellt wird. Doch so einfach ist es nicht – weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Mit einem Verbot des Gesichtsschleiers ändern wir auch nichts an vermeintlichen oder realen Missständen.
Welches Signal senden wir mit dieser Debatte aus?
Durch die Initiative werden junge Musliminnen und Muslime, die sich vorher noch nie mit ihrer Religion beschäftigt hatten, genau dazu gedrängt, dies nun zu tun. Diesen Effekt hatte bereits die Minarettverbot-Initiative. Auch jetzt kreuzen sich Fragen nach der eigenen religiösen Identität und deren Platz in der Gesellschaft. Die meisten Muslime gehen diese Frage auf eine produktive Weise an. Einzelne aber schaffen das nicht und bleiben mit dem Gefühl zurück, dass die Gesellschaft sie abweist. Bei vielen lagern sich auf diese Weise Ressentiments ab, die Scharfmachern und Terroristen in die Hände spielen.
Im Buch machen Sie sich auch Gedanken über die Folgen des Entscheids an der Urne. Wie sehen diese aus?
Bei einer Ablehnung der Verhüllungsverbot-Initiative hat eine Debatte stattgefunden – und das Thema ist erledigt. Die Situation dürfte sich dann beruhigen, zumal sich der Islamdiskurs seit 2017 abgeschwächt hat. Bei einer Annahme bliebe das Thema auf der Agenda, bis das Ausführungsgesetz erarbeitet und das Verbot tatsächlich in Kraft getreten ist. Die betroffenen Frauen würden kaum auf ihre Praxis verzichten und müssten Wege suchen, wie sie ihren Alltag und ihre Infrastruktur passend organisieren. Die eine oder andere wird eventuell auswandern. Und wie bereits gesagt: Viele Muslime würden das als Zeichen der Zurückweisung verstehen.
Beitrag im Blog des Bildungs- und Kulturdepartements Luzern – unter anderem mit Stimmen der an der Studie beteiligten Studentinnen
Andreas Tunger-Zanetti; unter Mitarbeit von Cornelia Niggli, Asia Petrino, Noémie Marchon, Julia Meier und Lea Wurmet
Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz
Zürich 2021
Nachtrag vom 5. Februar: Anmerkungen von Andreas Tunger-Zanetti zu den Diskussionen nach dem Erscheinen des Buches (Plattform «DeFacto»)