Wie wird die Welt beobachtet?

Wie hat sich die an UN-Weltkonferenzen und in UN-Statistiken artikulierte Sicht auf die Welt während sechs Jahrzehnten verändert? Dies wird im Rahmen eines wissenssoziologischen Forschungsprojekts untersucht.

Projekt-Koleiterin Prof. Dr. Bettina Heintz (l.) mit Forschungsmitarbeiterin Hannah Bennani.

Im Dezember 2015 blickte die Welt nach Paris und beobachtete die dort stattfindende UN-Klimakonferenz. Es war die bislang grösste diplomatische Versammlung der Geschichte. Rund 10'000 Delegierte aus 195 Staaten versuchten zwei Wochen lang unter den Augen von 3000 Journalistinnen und Journalisten, sich auf ein gemeinsames Ziel in der Klimapolitik zu einigen. Selbst wenn man noch nicht absehen kann, ob das am Ende im Konsens verabschiedete "Paris Agreement" tatsächlich umgesetzt wird, ist es doch gelungen, den Klimawandel als ein globales Problem zu markieren, das eine globale Lösung erfordert.

Die Pariser Klimakonferenz gliedert sich in eine lange Reihe von UN-Weltkonferenzen und Weltgipfeln ein, die in den 1950er-Jahren ihren Anfang nahmen. Insgesamt haben bis heute mehr als 50 Weltkonferenzen zu ganz unterschiedlichen Themen stattgefunden, auf denen nach oft langjährigen zähen Verhandlungen "Weltprobleme" definiert, Aktionsprogramme verabschiedet und Indikatoren zur Messung der Zielerreichung festgelegt wurden. UN-Weltkonferenzen sind Foren, in denen eine verbindliche Weltsicht formuliert und mit Legitimation versehen wird, und es sind gleichzeitig weltöffentliche Bühnen, auf denen die Existenz einer "Weltgesellschaft" dargestellt und damit auf einer symbolischen Ebene auch hergestellt wird. Das Forschungsprojekt "Die Beobachtung der Welt" unter der Leitung von Prof. Dr. Bettina Heintz, Professorin für soziologische Theorie und allgemeine Soziologie an der Universität Luzern, und Prof. Dr. Marion Müller von der Universität Tübingen (DE) untersucht aus wissenssoziologischer Perspektive, wie sich die an UN-Weltkonferenzen und in UN-Statistiken artikulierte Sicht auf die Welt verändert hat. Der Untersuchungszeitraum des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts, das sich in der Abschlussphase befindet, umfasst rund 60 Jahre und reicht von 1949 bis 2010.

Metamorphose des Rassenbegriffs

Die Untersuchung von UN-Weltkonferenzen strebt an, den Wandel der politischen Weltmodelle zu rekonstruieren. Dazu wurden die Vorbereitungs- und Abschlussdokumente mehrerer Weltkonferenzen analysiert und die Veränderungen der Leitkonzepte und Deutungsmodelle herausgearbeitet. Am Beispiel der Weltkonferenzen gegen Rassismus (1978, 1983 und 2001) konnten zum Beispiel deutliche Veränderungen der verwendeten Beobachtungskategorien nachgewiesen werden. Während der Rassenbegriff zunächst naiv und biologistisch verwendet wurde, lässt sich eine zunehmende Kulturalisierung der Kategorie feststellen, indem kulturelle Merkmale bereits bei der Sortierung nach Rassenzugehörigkeit eine immer grössere Rolle spielen. Damit fügt sich die internationale Beobachtung von Rassismus in den auch an anderen Weltkonferenzen nachweisbaren Trend ein, Menschen hinsichtlich ihrer kulturellen Besonderheiten und ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Zivilisationskreisen zu klassifizieren.

Dieser Deutungswandel zieht auch Veränderungen in der Rassismusbekämpfung nach sich, indem die Massnahmen zunehmend auf die Aufwertung einzelner Kollektive beziehungsweise der ihnen zugeschriebenen kulturellen Besonderheiten zielen. Parallel zu dieser Kulturalisierung der Beobachtungskategorien etablierten sich seit den 1990er-Jahren zwei neue normative Leitbilder: Multikulturalismus und kulturelle Vielfalt (diversity).

Der globale Kampf gegen den Rassismus hat also in den vergangenen 30 Jahren einen Perspektivenwechsel vollzogen: Während das Diskriminierungsverbot in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 zwar Rassenunterschiede beobachtete, aber letztlich deren soziale Nichtbeachtung anstrebte, werden seit den 1990er-Jahren verstärkt Differenzen zwischen Menschen auf der Basis von Kultur beobachtet und sogar mit der Forderung nach einem "Recht auf Differenz" verbunden. Der Aufstieg der "Indigenen", dem Hannah Bennani in ihrer Dissertation nachgeht, ist dafür ein instruktives Beispiel. Sie zeigt anhand einer umfangreichen Dokumentenanalyse, dass die Kategorie der Indigenen erst in den 1980ern zu einem Sammelbegriff für weltweit verstreute und kulturell sehr disparate Völker wurde. Diese ist in radikalem Kontrast zur "westlichen Moderne" konstruiert und etabliert dennoch – oder gerade deshalb – genuine Rechtsansprüche: Seit der 2007 verabschiedeten "Erklärung über die Rechte indigener Völker" können sich indigene Völker auf ein Set spezifischer Menschenrechte berufen, das auch kollektive Rechte beinhaltet und damit die individualistische Ausrichtung der Menschenrechte irritiert. Ein ähnlicher Wandel der Beobachtungskategorien lässt sich auch für die beiden UN-Menschenrechtskonferenzen nachweisen. Während Menschenrechte in Teheran (1968) im Kontext von Rassismus und Ungleichheit verortet und primär in einem polit-ökonomischen Rahmen interpretiert wurden, stand an der Konferenz in Wien 1993 die Frage der kulturellen Differenz im Vordergrund: Der Universalismusanspruch der Menschenrechte hatte sich nun gegen kulturrelativistische Argumente durchzusetzen, die das Recht auf kulturelle Differenz über die Forderung nach gleichen Rechten für alle stellten.

Statistiken als kulturelle Dokumente

Einen anderen Zugang zur Leitfrage des Projekts bietet die Analyse des Wandels statistischer Klassifikationssysteme und Indikatoren. Das von Sophia Cramer bearbeitete Teilprojekt "Internationale Statistiken" geht dieser Frage einerseits am Beispiel der Länderklassifikation in der Bevölkerungsstatistik und andererseits anhand der "National Accounts"-Statistik nach, die seit 1949 im "UN Statistical Yearbook" jährlich publiziert werden. Die Statistiken werden als kulturelle Dokumente interpretiert, die sich aus einer wissenssoziologischen Perspektive untersuchen lassen. Der Analysefokus liegt auf der Frage, welches Weltbild internationale Statistiken erzeugen und wie sie es mit Glaubwürdigkeit versehen. Es geht also nicht darum, ob die Zahlen valide sind, sondern darum, was die Statistik kommuniziert – oder eben auch nicht kommuniziert.

Ein Beispiel dafür ist die Länderklassifikation, die exemplarisch am Beispiel der Bevölkerungsstatistik untersucht wird. Letztere unterstellte zwar von Anfang an internationale Vergleichbarkeit, es blieb aber lange unbestimmt, was mit "country" gemeint ist und ob die aufgeführten Einheiten tatsächlich vergleichbar sind. Faktisch kombinierte das Klassifikationssystem zwei unvereinbare Ordnungsprinzipien: die Einteilung der Welt in Kolonialmächte und abhängige Gebiete und die Einteilung in gleichberechtigte Nationalstaaten. Zu einer konsistenten Länderklassifikation kam es erst Ende der 1960er-Jahre, als sich das Prinzip einer Gleichheit aller Menschen und aller Völker gegen den kolonialen Differenzdiskurs durchgesetzt hatte. In der Bevölkerungsstatistik äusserte sich diese Entwicklung in einem Sortierungsprinzip, das sich nicht mehr am Kolonialstatus orientiert, sondern "nur noch Nationalstaaten kennt". Erst von diesem Zeitpunkt an wurde die internationale Statistik tatsächlich zu einem weltweiten Vergleichsinstrument.


Quelle: Jahresbericht der Universität Luzern 2015, Juni 2016, S. 24–26.
Artikel (pdf)