Rehabilitierung nach einem halben Jahrtausend

"Machiavelli war kein Machiavellist": Dieser Feststellung möchten Prof. em. Dr. Enno Rudolph und Dr. Marzia Ponso mit ihrer kritischen Ausgabe von "Il Principe" Nachdruck verleihen. Gleichzeitig kratzen sie am vorherrschenden Bild des Humanismus.

Dr. habil. Marzia Ponso und Projektleiter Prof. em. Dr. Enno Rudolph. (Bild: Dave Schläpfer)

"Der Zweck heiligt die Mittel": Dieses Motto wird nach wie vor gern Machiavelli (1469-1527; siehe Kontextelement unten) zugeschrieben – dies zumeist kaum in rühmlicher Weise. Seine Schrift "Il Principe" (1513; dt. "Der Fürst") steht in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer unter dem Verdacht, eine Rezeptur für den rücksichtslosen Machtgebrauch politischer Tyrannen zu enthalten.

Prof. em. Dr. Enno Rudolph, emeritierter Philosophieprofessor an der Universität Luzern, stellt klar: "Dieser Satz, demzufolge beliebige Ziele oder Zwecke sämtliche für sie eingesetzte Mittel und Methoden legitimieren, ist so nirgends bei Machiavelli zu finden. Vielmehr entstammt er den Reaktionen seiner einflussreichen Kritiker und Gegner wie Friedrich des Grossen." Gewiss könnte aufgrund der im "Principe" empfohlenen Maxime, derzufolge sich die Methoden von Kriegführung oder Machterweiterung jeweils an langfristigen Zielen zu orientieren haben, geschlussfolgert werden, dass Niccolò Machiavelli eine moralfreie Politik vertreten habe. "Doch dass Zwecke Mittel 'heiligen', also über jeden Zweifel erhaben sind – das entspricht definitiv nicht der Position Machiavellis."

Vom Nationalfonds gefördert

Zusammen mit Dr. habil. Marzia Ponso, Philosophin aus Turin, arbeitet Rudolph seit dem Frühling 2013 an einer kommentierten Neuedition des wirkungsmächtigen Hauptwerks Machiavellis, die neben dem italienischen Originaltext auch eine neue deutsche Übersetzung umfasst. Dazu werden die beiden ältesten noch vorhandenen Handschriften des rund 150 Seiten umfassenden Werkes, aber auch die von Machiavelli verwendeten historischen Quellen wie Livius oder Thukydides in die kritische Sichtung miteinbezogen. Kürzlich hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) eine einjährige Verlängerung der Förderung des Forschungsprojekts bis Ende September 2016 bewilligt, sodass nun – nach sechsmonatiger Unterbrechung – die Fertigstellung des Vorhabens gewährleistet sein sollte.

"Die These, dass Machiavelli selbst kein Machiavellist ist, hat der Philosoph Ernst Cassirer bereits 1945 aufgestellt", führt Rudolph aus. "Diesbezüglich konnte inzwischen zumindest im wissenschaftlichen Diskurs ein Konsens hergestellt werden – dies auch, weil man gemeinhin 'Il Principe' längst nicht mehr isoliert für sich, sondern im Kontext des Gesamtwerks Machiavellis liest." Höchstwahrscheinlich, so Marzia Ponso, habe ein mutmassliches Missverständnis entscheidend zur einseitigen Rezeption der Schrift beigetragen: "Der ursprüngliche Titel lautete 'De Principatibus', also 'Von den Fürstentümern' – die Figur des 'Fürsten' stand also gar nicht so sehr im Fokus von Machiavellis Überlegungen, der ja zum Zeitpunkt der ersten Publikation bereits seit fünf Jahren nicht mehr lebte."

Niccolò Machiavelli, dargestellt auf einem Ölgemälde von Santi di Tito (1536–1603), Palazzo Vecchio, Florenz.

Zersplittertes Italien einigen

Und um die "Fürstentümer" geht es Niccolò Machiavelli gemäss Rudolph im "Principe" tatsächlich vorrangig: Es waren die Formen der Macht und der Herrschaftsausübung, die er analysierte – und die er ändern wollte, und zwar mit Blick auf die damalige Lage der italienischen Halbinsel, die durchaus als prekär zu charakterisieren war: "Dazu muss man wissen, dass zu jener Zeit kein 'Italien' im heutigen Sinne existierte: Zum einen gab es diverse Fürstentümer wie Mailand oder Ferrara oder auch das Königtum Neapel, zum anderen bedeutende Republiken wie Genua oder Venedig, das Florenz der Medici, und nicht zuletzt den Kirchenstaat."

Aufgrund dieser Aufsplitterung des Landes in konkurrierende Regionalstaaten hätten die Grossmächte Italien immer wieder gern und erfolgreich als Beutekuchen betrachtet. "Eroberungskriege und interne Konflikte waren die Folge." Entsprechend habe sich Machiavelli, selbst gewiss kein Anhänger der Monarchie, für eine republikanische Verfassung Italiens nach römischem Vorbild eingesetzt – damals kaum ein mehrheitsfähiger Gedanke. Ponso: "Ziel von 'Il Principe', das auch aufgrund seiner Rhetorik durchaus als ein Stück Widerstandsliteratur verstanden werden kann, war es aufzuzeigen, auf welche Weise die Errichtung einer langfristig stabilen Republik möglich ist."

Zur Inangriffnahme und Durchführung des Kampfes für dieses revolutionäre Ziel braucht es Machiavelli zufolge einen politischen Virtuosen (uomo virtuoso), eine Idealfigur, die Italien – notabene mit harter Hand – zuallererst zu Italien macht. "Und dann aber, wenn dieses Ziel erreicht ist, weiss, dass ihre Arbeit getan ist, und als Zeichen ihrer Grösse zurücktritt, anstatt an der Macht zu kleben", so Enno Rudolph. Generell seien zahlreiche Thesen, die sich im "Principe" finden, als ausgesprochen modern und als nach wie vor aktuell zu bezeichnen: "So betont Machiavelli beispielsweise die Notwendigkeit, in der Politik flexibel zu agieren (virtù), sich dynamisch an veränderte Begebenheiten anzupassen (necessità) und zufällige Gelegenheiten geistesgegenwärtig zu nutzen (occasione; fortuna)." Diese dynamische Interaktion flexibler politischer Tugenden stehe im Gegensatz zu den früheren "Fürstenspiegeln", die an den Fürsten das verlässliche Festhalten an einem starren Set politischer Verhaltensregeln lobten.

Politisierung des Humanismus

Mit der geplanten Neuedition soll unter anderem auch darauf hingearbeitet werden, das heutige Image des Humanismus, der die Epoche der Renaissance integriert und markant geprägt hat, ein Stück weit zu korrigieren. Rudolph: "Der Humanismus als Tradition und Ethos erscheint heutzutage vielen Menschen als verstaubt, einseitig auf geschichtliche Vergangenheit und alte Sprachen fixiert und vor allem als unpolitisch." Machiavelli, den die beiden Forschenden - trotz offensichtlicher Unterschiede zu anderen zeitgenössischen Autoren, die, wie Pico della Mirandola, als exemplarische Repräsentanten des Humanismus gelten – ebenfalls als einen genuinen Humanisten betrachten, belehre einen eines Besseren: "Er hat, so unsere These, den Humanismus von Grund auf politisiert."

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Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 53, November 2015.
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