Rechtsforschung zu Sans-Papiers
Die rechtliche Situation von Migrantinnen und Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus, sogenannten Sans-Papiers, ist nach wie vor alles andere als klar. Im Rahmen eines NCCR-Projekts werden nun Entscheidungsgrundlagen für die Politik erarbeitet.
Schätzungen zufolge leben rund 100'000 Sans-Papiers in der Schweiz – eine eindrückliche Zahl. "Auch wenn sich diese Menschen hier in einer irregulären Situation aufhalten und arbeiten, so sind sie doch nicht ohne Rechte", sagt Prof. Dr. Martina Caroni. "Allerdings können sie nicht vollständig von diesen Rechten Gebrauch machen, weil sie in ständiger Angst leben, von den Behörden entdeckt zu werden und das Land verlassen zu müssen", so die Ordinaria für öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht an der Universität Luzern.
Caroni ist Leiterin des Projekts "New Wine in Old Skins? Containing 'New' Migration with Traditional Approaches. The Example of Undocumented Immigrants in Switzerland". Dabei handelt es sich um eines von total 18 Teilprojekten von "NCCR on the Move – The Migration-Mobility Nexus", einem an der Universität Neuchâtel beheimateten Nationalen Forschungsschwerpunkt (siehe Kontextelement unten). Im Rahmen des auf vier Jahre bis 2017 angelegten Programms wird das Luzerner Projekt vom Schweizerischen Nationalfonds mit 570'000 Franken gefördert. Als Forschungsmitarbeitende beim Projekt dabei sind Dr. iur. Lucia Della Torre und Jyothi Kanics, MSt International Human Rights Law.
Migration trotz höherer Hürden
"Bezüglich Sans-Papiers pendelt die Schweizer Politik schon länger unentschieden hin und her", fasst Martina Caroni, seit 2009 Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM), zusammen. Dazu müsse man wissen, dass bei der Migration aus EU- und EFTA-Staaten wie gehabt der Grundsatz der Freizügigkeit zur Anwendung kommt. Im Gegenzug sei aber für Personen aus sogenannten Drittstaaten mit der 2008 erfolgten Revision des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer Exklusion zum bestimmenden Prinzip geworden. "Die Hürden, um sich in der Schweiz legal niederlassen zu können, sind für Menschen aus Drittstaaten seitdem enorm hoch. Chancen auf eine Bewilligung haben praktisch nur noch Hochqualifizierte." Allerdings werde so oder so migriert, das sei schon immer so gewesen. "Meine Arbeitshypothese: Mit dem revidierten Gesetz hat sich eine neue Art der Zuwanderung ausgebildet – die bewusste Migration in den Sans-Papiers-Status."
Allen Widrigkeiten zum Trotz, die das Leben in der Fremde unter diesen Umständen mit sich bringt, habe die Einwanderung nicht an Attraktivität verloren, so Martina Caroni: "Arbeitsplätze, etwa in der Altenpflege, sind genügend vorhanden, ein Bedarf an günstigen Arbeitskräften ist ausgewiesen." Daraus erwachse eine paradoxe Situation: "Die Wirtschaft ist auf die Sans-Papiers angewiesen – gleichzeitig wird vom Staat von verschiedener Seite gefordert, durchzugreifen." Dazu komme, dass auch diese Einwohner der Schweiz unabhängig von der Art ihres Aufenthaltsstatus Menschenrechte hätten, die ihnen gewährt werden müssten. "Bemühungen in diese Richtung haben zu teilweise kuriosen Konstellationen geführt: So sind die Krankenkassen inzwischen verpflichtet, Sans-Papiers zu versichern, und Sans-Papiers-Jugendliche dürfen, wie das bereits früher in anderen Ländern möglich war, eine Lehre machen. Doch wie sicher können die betroffenen Familien sein, dass nicht doch plötzlich etwas nach aussen sickert – mit allen Konsequenzen, die das mit sich brächte?"
Legale Beratungstätigkeit?
Wie es Sans-Papiers geht und was sie im Leben beschäftigt, weiss Prof. Caroni nicht nur vom Hörensagen: Sie ist – wie unter anderem etwa auch alt Stadtrat Urs W. Studer – Mitglied des Beirats des Vereins "Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers Luzern". Die 2012 eröffnete, zum Grossteil von den drei Luzerner Landeskirchen finanzierte Stelle berät jährlich rund 160 Personen, deren Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist. Bei der Lancierung des Projekts wurde seitens Politik und Medien die Frage aufgeworfen, wie ein solches Angebot juristisch einzuschätzen sei. Dazu erklärt Caroni: "Sans-Papiers darin zu beraten, wie sie ihre völker- und verfassungsrechtlich garantierten Rechte wahrnehmen können, ist auf jeden Fall legal. Sobald der Service darüber hinausgeht, man also von Beihilfe zu illegalem Aufenthalt sprechen könnte, wird es allerdings problematisch." In Luzern sei man sich dieses schmalen Grats sehr bewusst und darauf bedacht, dass juristisch alles korrekt ablaufe.
Ziel des Dreierteams Caroni, Della Torre und Kanics ist es – auch im Austausch mit den anderen Forschungsteams aus dem interdisziplinären NCCR-Netzwerk –, eine fundierte Bestandesaufnahme zu allen hier angesprochenen Aspekten zu erarbeiten: Wie ist die gesellschaftliche, gesetzliche, politische, wirtschaftliche Ausgangslange? Was hat sich in den letzten Jahren verändert? Wie geht man in anderen Ländern mit der Situation um? Welche Rechte haben Sans-Papiers und welches sind die Hindernisse, um diese wahrzunehmen? Prof. Dr. Martina Caroni: "Darauf aufbauend, fragen wir weiter: Was gibt es für Ansätze für eine kohärentere Politik in der Schweiz in Sachen Sans-Papiers? Was dann mit diesen Empfehlungen geschieht, wird Sache der Politik sein."
Das Projekt von Prof. Dr. Martina Caroni (siehe Haupttext) ist in einem National Centre of Competence in Research (NCCR) bzw. Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) angesiedelt. NCCRs fördern langfristig angelegte Forschungsvorhaben zu Themen von strategischer Bedeutung für die Zukunft der schweizerischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Geforscht wird in einem fächerübergreifenden Netzwerk aus Heiminstitution (Leading House) und Partnerinstitutionen. Seit 2001 hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) im Auftrag des Bundes 36 NCCRs lanciert. Das Budget betrug bis 2013 2,3 Milliarden Franken.
Forscherteams der Universität Luzern sind und waren an verschiedenen NCCRs beteiligt – neben "On the Move" bei "Bildkritik", "Demokratie" (siehe Artikel) und "Trade Regulation". Angestrebt wird, auch einmal als Heiminstitution eines Nationalen Forschungsschwerpunkts fungieren zu können. Das 2008 als universitätseigener Forschungsschwerpunkt lancierte Luzerner Projekt "TeNOR – Text und Normativität" hatte es 2011 bis in die letzte Runde des SNF-Wettbewerbsverfahrens geschafft.
Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 50, Februar 2015.
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