Erzählungen aus der Professur...
Hier werden Berichte und Erzählungen der Studierenden aus den verschiedenen Lehrveranstaltungen der Professur veröffentlicht.
Vielen Dank an Bernadette Gisler, Marie Fischer und Stefanie Uhl, die uns ihre Eindrücke vom Hauptseminar "Geschichte der feministischen Philosophie" (HS 2021) mitgeteilt haben.
Feministische Philosophie und Tango Argentino
Gedanken einer tanzenden Philosophiestudentin im Nachgang zum Seminar «Geschichte der Feministischen Philosophie»
Nein, ich bin keine Feministin. Zumindest keine, die meinem Bild einer Feministin entspricht. Das Seminar habe ich gewählt, weil die Credits im Minor Ethik angerechnet werden. So bin ich völlig leidenschaftslos in das Seminar hineingestolpert.
Und dann habe ich gestaunt. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hat die Londoner Schriftstellerin Mary Wollstonecraft die Rechte der Frauen verteidigt. 1869 haben sich Harriet Taylor Mill und John Stuart Mill mit der Hörigkeit der Frau beschäftigt und ihr Buch wurde zur «Bibel der Feministen des 19. Jahrhunderts». Unglaublich, wenn ich daran denke, dass ich als Kind die Diskussion über die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz miterlebt habe. Hat es wirklich so lange gedauert bis zur Anerkennung der Frau als vollwertiger Mensch und Mitglied der Gesellschaft?
Das Seminar zeigt Wirkung: Ich frage mich, was ich mich bisher nie gefragt hätte: Gibt es auch einen adäquaten weiblichen Ausdruck für den Begriff «der Mensch»? Thesaurus schlägt an erster Stelle «der Erdenbewohner» oder «Erdenbürger» vor, gefolgt von «das Individuum» und erst an vierter Stelle «die Person» und später noch «die Figur». Als Studentin der praktischen Philosophie gehe ich sofort an die Umsetzung bzw. Übersetzung der Frage. Sie lautet jetzt neu: «Hat es wirklich so lange gedauert bis zur Anerkennung der Frau als vollwertige Person und Figur der Gesellschaft?» Naja, ich bin mir nicht sicher, ob das besser ist. Gendergerechte Sprache treibt manchmal seltsame Blüten.
Wir lernen Virgina Woolf und Simone de Beauvoir als Vertreterinnen der Transitionsphase, des Übergangs kennen. Fragen zum Bedürfnis nach Individualität versus Zugehörigkeit zu einer Gruppe tauchen auf. Brauchen wir die Gruppe, brauchen wir Genderness, die Zweigeschlechtlichkeit? Was ist wichtiger: das Trennende oder das Verbindende? Manchmal nehmen wir mehr Fragen mit nach Hause, als wir mitgebracht haben. Aber genau das ist Philosophie. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich fühle mich gerade Sokrates sehr nahe: Er konnte unterscheiden, was er weiss und was er nicht weiss. Ich weiss jetzt, dass ich vieles nicht weiss.
Ab den 1960er Jahren kamen die Phasen der Differenz und Undifferenz. Unglaublich – diese Philosophinnen sind bereits Zeitgenossinnen von mir! Donna Haraways «Cyborg» fordert mich mental heraus. Ist «es» Mensch oder Maschine, weiblich oder männlich? Oder alles zugleich? Wo stehen wir in dieser Entwicklung? Gemäss Haraway können wir die bisherigen Grenzen nicht mehr aufrechterhalten und sollen neue Verwandtschaften suchen, auch mit nicht-menschlichen Lebewesen. Eine weitere These ist, dass die Frau von der Mutterschaft befreit werden soll. «Nicht möglich», ist meine erste Reaktion. Oder ist dies ein futuristischer Fehlschluss? Bereits heute werden Kinder im Reagenzglas, ausserhalb des Mutterleibes, gezeugt. Ab der 22. Schwangerschaftswoche haben Frühchen bereits eine, wenn auch kleine, Überlebenschance. Somit wäre rein rechnerisch bereits der halbe Weg zu dieser Utopie zurückgelegt. Gut möglich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis dieser Befreiungsschlag der Frau möglich ist. Aber wo führt das hin? Braucht es dann den Menschen noch? Und was ist mit Gott?
Wir haben in diesem Seminar viel diskutiert und uns mit Fragen zu den Geschlechterrollen, zu Differenzen und Undifferenziertem auseinandergesetzt. Wo stehe ich am Ende dieses Seminars? Bin ich zu einer Feministin geworden?
Mir geht es ähnlich wie Simone de Beauvoir. Als Mädchen und junge Frau standen mir alle Möglichkeiten offen und ich habe sie als Selbstverständlichkeit angesehen und genutzt. Als Wirtschaftsinformatikerin habe ich mich in einer männderdominierten Welt bewegt und mich sehr wohl gefühlt. Der Umbruch kam mit den Kindern. Es waren nicht nur äussere Umstände, die zum grossen Wandel geführt haben. Es waren schlicht und einfach auch die Hormone. Ach, welch ein Durcheinander hat die Geburt meiner Kinder in meinem Körper und in meinem Geist ausgelöst!
Und heute bin ich Philosophiestudentin, beschäftige mich mit Fragen nach der Rolle der Geschlechter, nach Gleichheit und Differenzen zwischen den Geschlechtern. Donna Haraway fordert uns auf, das Wesen von Männern und Frauen neu zu denken. Meine Antwort ist: Machen wir es doch wie im Tango Argentino. Bereits die Aufforderung zum Tanz geschieht gleichberechtigt über Augenkontakt. Eine gegenseitige Einladung und Aufforderung zum Tanzen, elegant und rücksichtsvoll. Beim Tanzen gibt es eine klare Rollenverteilung: Der Mann führt, die Frau folgt. Das ist kein Macho-Getue, sondern ein gegenseitiges Aufeinandereingehen. Nur dann funktioniert der Tango. Und mit zunehmender Erfahrung wird alles möglich. Während des Tanzens übernimmt zwischendurch die Frau die Führung, sie bestimmt das Tempo und die Zeit die sie braucht für ihre Verzierungen. Der einfühlsame Mann wartet auf den Moment, wo er wieder übernehmen und neue Impulse setzen kann. So entsteht auf dem Boden der Gleichberechtigung eine wunderbare Harmonie. Genauso sollte es doch auch im wirklichen Leben sein. Die Anerkennung und Würdigung der gegenseitigen Unterschiede, ein gleichberechtigter Tanz, ein Spiel von Führen und Folgen.
Ich habe an einer deutschen Uni Theologie bis zur Zwischenprüfung studiert (entspricht einem Bachelor-Level in Luzern) und wollte danach ein Auslandssemester machen. Aufgrund der Lage und ständig wechselnder Regelungen habe ich mich für Luzern entschieden, da es die Möglichkeit gibt, im Fernmodus Theologie zugleich digital und im Ausland zu studieren. „Die Geschichte der Feministischen Philosophie“, diese Veranstaltung klingt schon beim ersten Durchforsten des Vorlesungsverzeichnisses sehr interessant. Dozieren wird ein italienischer Professor, es ist durchaus ungewöhnlich, dass Männer eine Veranstaltung zum Feminismus leiten. Aber genau so ein Alltags-Sexismus-Denken soll in der Gesellschaft abgebaut werden. Ich habe mich also beim Hauptseminar angemeldet. Bei der ersten Sitzung stellt sich der Professor vor: „Ich bin Professore Ventimiglia, das heißt auf Deutsch „zwanzig Meilen“ und ich komme aus Sizilien. Aber ich bin kein Mafioso, sondern ein Philosoph.“ Diese Vorstellung trägt bereits zu allgemeiner Erheiterung bei. Man merkt direkt, welche Begeisterung der Professor für das Thema hat. Das zeichnet die Veranstaltung im Allgemeinen aus, es herrscht ein Geist großer Offenheit und Begeisterung für neue Themen, andere Sichtweisen und ernsthafte Perspektivenwechsel, die in unserer Gesellschaft heute so oft fehlen. Sehr bald trauen sich auch die Teilnehmenden eigene Erfahrungen in Wortbeiträgen zur Sprache zu bringen. Das Spagat zwischen einer Prise Humor und der nötigen Wissenschaftlichkeit wird im Seminar für meinen Geschmack exzellent getroffen. Auch wenn die Struktur aufgrund der hohen Zahl an Teilnehmern nochmal verändert wird, gibt es immer spannende Referate und darauffolgende Diskussionen.
Thematisch beschäftigen wir uns besonders mit angloamerikanischen Denkerinnen, dabei stößt man auf Klassikerinnen wie Simone de Beauvoir, Virginia Woolf, Mary Wollstonecraft oder Judith Buttler. Aber auch auf Neuentdeckungen, die ich vorher noch nicht kannte, wie Shulamith Firestone, Betty Friedan (deren Bücher ich nach der Sitzung antiquarisch erworben habe) und auch Luisa Muraro, der Landsfrau des Philosophie-Professors. Themen wie Differenzfeminismus oder biologische Determination spielen oft eine zentrale Rolle in den Theorien, aber auch empirische Beobachtungen und gesellschaftliche Zuschreibungen.
Es werden auch durchaus kontroverse Ansätze dargestellt, wie der von Donna Haraway und ihren Cyborgs, der mich persönlich sehr befremdet hat oder das Men´s rights movement im Zusammenhang mit Warren Farrell.
Wir diskutieren oft über alternative Konzeptionen von Familie, von Frausein, Mannsein, Muttersein und Vatersein.
Es gibt eine Einordnung in den Kontext der breiten Philosophie, dabei werden immer wieder Bezüge zu Aristoteles und Platon aufgezeigt, aber auch Zusammenhänge mit der feministischen Theologie.
Für mich persönlich war und ist das Seminar von großem Mehrwert und, weil der Professor uns darauf hingewiesen hat, dass eine echte Frage mehr wert ist als 100 künstliche Antworten stelle ich Ihnen zum Abschluss meine offene Frage vor:
„Gibt es weibliche Stärke in der Bibel? Wie gehen die Texte mit dieser um? Wird sie zugelassen?“
Ich bedanke mich ganz herzlich für die tollen Diskussionen, die Reflexionsbereitschaft und Offenheit meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Möglichkeit zur digitalen Teilnahme durch Herrn Najafi und für die Begeisterung, mit welcher Professor Ventimiglia das Seminar geleitet hat!
Es wird mir in guter Erinnerung bleiben und ich kann Gelerntes sicher in die ein oder andere Argumentation einbringen.
Frauen in der Philosophie bilden ein wichtiges Kapitel, wurde ihnen doch der Zugang zu wissenschaftlichen Bereichen lange verwehrt. Die erste Vorlesung wurde von Herrn Prof. Ventimiglia als Übersicht gestaltet. Hier konnten Kernthemen und Lernziele kennengelernt und besprochen werden. So standen zu Beginn Überlegungen, ob der Feminismus die Verschmelzung beider Geschlechter anstrebt. Schützt man Rechte der Frauen, indem man sie als „gleich“ oder „different“ betrachtet? Was ist Konstrukt, was wirklich männlich oder weiblich? Wie sind Geschlechtsidentitäten zu werten und gibt es diese überhaupt? Auch in wie weit gesellschaftliche Konstrukte die Wahrnehmung der Geschlechter beeinflusst wurde zum Thema. Hier wurde nicht lediglich die Perspektive des Feminismus der Frauen, sondern auch jener aus männlicher Perspektive zum Thema, sowie Überlegungen zur biologischen Seite der Geschlechterdifferenz. Über allem stand die Frage, was Feminismus ist und was diesen ausmacht. Müssen und sollen Frauen wie Männer behandelt werden oder sind Frauen eben gerade anders als Männer, dennoch aber gleichwertig zu behandeln? Dieser ersten Einführung sollten spannende Wochen mit Beiträgen der Studierenden zu verschiedenen Philosophinnen sowie auch zweier Autoren aus dem Bereich der Männerbewegung folgen.
Die Vorlesungen wurden im Folgenden durch Beiträge der Studierenden sowie anschließende Feedbacks zu den Themen und fachlich geleiteter Diskussion gestaltet. Die jeweiligen Hauptwerke und die Kernaussagen dieser bildeten die Grundlage für die inhaltliche Aufbereitung der Beiträge. Den Anfang machte als Thema Mary Wollstonecraft und damit eine Autorin aus dem 16. Jahrhundert. Über die nächsten Jahrhunderte wurde der Feminismus immer wieder thematisiert, teils auch die Unterstützung der Frauen durch Ehemänner oder andere Familienmitglieder, die sich damit gegen die gesellschaftlichen Umstände ihrer jeweiligen Zeit stellten. Wie weit also die weibliche, feministische Philosophie zurückgeht, konnte hier festgestellt werden. Dass dieses Thema jedoch nach wie vor aktuell ist zeigten Beiträge zu Veröffentlichungen aktueller Autorinnen. Von Donna Haraway über Luce Irigaray und Rosie Braidotti. Rosie Braidotti konnte gar in einer Sitzung direkt erlebt werden und mit ihrer mitreißenden, begeisternden Art ihren Beitrag zu feministischen und Genderdebatten darstellen. Feminismus wurde durch die Auswahl der Werke und Philosophinnen sehr different dargestellt. Unterschiedliche Interpretationen und Ansichten ließen den Horizont der Seminar Teilnehmerinnen und Teilnehmer wachsen. Denn „den Feminismus“ gibt es nicht, so wenig, wie von einer einzigen Sichtweise oder Wahrheit der Betrachtung der Geschlechter und deren Verhältnis zueinander sowie ihren Platz in der Gesellschaft ausgegangen werden kann.
Nach diesem Seminar bleiben zahlreiche Eindrücke. Eindrücke starker Frauen, die sich in ihren Veröffentlichungen mit den Themen der Weiblichkeit und des Feminismus auseinandersetzten und es uns so heute ermöglichen, verschiedene Blickwinkel einzunehmen und uns ein Bild zu machen von feministischen Debatten damals und heute. Was dieses Seminar bei mir persönlich hinterlässt: einen großen imaginären Bücherstapel voll inspirierender, anregender Literatur und einen erweiterten Blick auf das Thema Feminismus sowie den Dank an Herrn Prof. Dr. Ventimiglia, der durch das Angebot der Vorlesung ein wichtiges, zeitloses Thema in Verbindung mit der Philosophie dargestellt hat.