Nachruf auf Simon Lauer (1929-2025) – Ein Leben im Dienst der Judaistik
Das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) und die Theologische Fakultät nehmen Abschied von Prof. Dr. Simon Lauer, welcher im Alter von 95 Jahren von uns gegangen ist. Simon Lauer war 1981 einer der Gründer des IJCF und blieb dem Institut seither verbunden.
Im Alter von 95 Jahren verstarb am 27. Januar in Zürich Prof. Dr. Simon Lauer. Er war einer der Pioniere der Judaistik in der Schweiz. Zusammen mit dem katholischen Theologen Clemens Thoma, der seit 1971 an der damaligen Theologischen Hochschule Luzern als erster Ordinarius für Judaistik und Bibelwissenschaft wirkte, gründete er 1981 das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) an der heutigen Universität Luzern. Das IJCF zählt damit zu den ältesten und traditionsreichsten Instituten für Jüdische Studien in Europa.
Simon Lauer verkörperte den klassischen gebildeten Gelehrten. Er verfügte über eine äusserst profunde humanistische und rabbinische Bildung. In dieser Kombination folgte er ein Leben lang dem Bildungsideal des Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch (1808-1888), Begründer der Neoorthodoxie. Dessen Ideologie des «Torah im Derech Eretz» (Thora und «Wege der Welt») vereinbarte das humanistische, historisch-kritische Bildungsideal der Humboldtschen Universität des 19. Jahrhunderts mit dem Ideal des klassischen Thorastudiums. Der ideale Jude, der «Jissroel-Mensch», so der von Hirsch geprägte Begriff, ist «ein aufgeklärter Jude, welcher die Gebote beachtet» und der gleichzeitig an der allgemeinen bürgerlichen Welt teilnimmt. Simon Lauer lebte diesem Ideal des traditionsreichen deutschen Judentums zeitlebens nach.
Er war einerseits ein Gelehrter klassischen Stils mit einer tiefen humanistischen Bildung und einer grossen Leidenschaft für griechische und lateinische Literatur, Lyrik, Philosophie und Philologie. Andererseits verfüge er über eine äusserst profunde rabbinische Bildung, die es ihm ermöglicht hätte, auch die Laufbahn eines Rabbiners einzuschlagen. Obwohl er in Auftreten und Erscheinung mitunter als ein Mann aus der vergangenen bürgerlichen Welt des 19. Jahrhundert rüberkam – wohin sein Gedächtnis nach eigenen Angaben auch zurückreichte –, war er immer auch durch und durch ein Mann der Gegenwart.
Bis ins hohe Alter verfolgte er das Zeitgeschehen. So nahm er an den aktuellen gesellschaftlichen politischen und wissenschaftlichen Debatten teil, wie wir selbst erfahren durften, als wir ihn vor etwas über einem Jahr im orthodox-geführten jüdischen Pflegheim «Hugo Mendel» in Zürich besuchten. Er war nicht nur über die aktuelle Lage auf der Welt, in Israel, in der Schweiz und in den hiesigen jüdischen Gemeinden bestens informiert, sondern verfolgte auch die Luzerner Judaistik und wusste um die Geschehnisse rund um das Luzerner IJCF. Das Wohlergehen des Instituts, das er mehr als vierzig Jahre zuvor mitbegründet hatte, lag ihm auch im hohen Alter am Herzen. Bescheid wusste er auch über Vorgänge in Kirche und Vatikan, welche den Dialog und das Gespräch mit dem Judentum betrafen, ein wichtiges Anliegen von Simon Lauer.
Auf seinem Tisch im Pflegeheim lagen Zeitungen und gleich mehrere aufgeschlagene Bücher rabbinischer und weltlicher Autoren. Das Studieren der Klassiker und das «Lernen», wie der jiddische Ausdruck für das Studium der Thora, des Talmuds und der späteren rabbinischen Schriften lautet, waren ihm ein tägliches Anliegen.
Dabei legte Lauer Wert auf Genauigkeit, auf Tiefe, auf akkurates Zitieren und auf ein vertieftes Verständnis der Texte. Das war sein Anspruch an sich selbst, aber auch an andere. Zeugnis von seiner Bildung legte seine grosse Bibliothek ab. Leider konnte er nur wenige seiner Bücher in die Altersresidenz mitnehmen.
Geboren wurde Simon Lauer 1929 in Mannheim als Sohn des dortigen Gemeinderabbiners Chaim Lauer und seiner Frau Elsa Lauer-Eppenstein (1895-1970). Die Mutter stammte aus Westpreussen und absolvierte in Berlin eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie war die Tochter von Lauers Berliner Lehrer Simon Eppenstein, sowie die Cousine von Rabbiner Max Dienemann, der zusammen mit Leo Baeck den «Allgemeinen Rabbinerverband Deutschlands» leitete.
Der Vater Chaim Lauer wurde 1876 im galizianischen Bobowa geboren, das damals in Österreich-Ungarn lag. Er besuchte die Jeschiwa im ungarischen Bonyhád und assistierte anschliessend Rabbiner Michael Cahn in Fulda. In Basel ging er aufs Gymnasium. Nach der Matura schrieb Chaim Lauer sich für ein Medizinstudium an der Universität Basel ein. Er wechselte aber bald zur Philosophie sowie Semitistik und machte 1913 sein Doktorat. Sein Leben finanzierte er mit Privatstunden, als Lehrer im heute noch existierenden Basler Lehrhaus «Schomre Thora» und von 1908 bis 1912 als Rabbiner und Lehrer in Liestal.
1914 wurde er Oberrabbiner der damaligen jüdischen Ansiedlung in Argentinien. Der Erste Weltkrieg verhinderte aber Chaim Lauers Amtsantritt. Stattdessen wurde er Rabbiner in Biel. 1925 wechselte er auf eine Rabbinatsstelle in Mannheim. Im selben Jahr heirateten er und Elsa Eppenstein.
Der Sohn Simon wurde 1929 in Mannheim geboren. Neun Jahre später erlebte er dort das Novemberpogrom vom 9. November 1938, als die 1855 erbaute Hauptsynagoge der Stadt von den Nazis zerstört wurde. Lauer berichtete später in einem Magazinartikel über seine Erlebnisse und darüber, dass sein Vater damals darüber informiert wurde, dass er bald wegen angeblichen Devisenvergehen angeklagt werde. Für die Familie Lauer war der Zeitpunkt gekommen, Deutschland zu verlassen. Als Schweizer Staatsbürger, der Chaim Lauer seit seinem Schweizaufenthalt war, waren er und seine Familie bis dahin von den Nazis weitgehend unbehelligt geblieben. Gegen die Klage hätte ihn sein Schweizer Pass aber nicht geschützt. Und so floh die Familie aus Mannheim und kehrte nach Biel zurück, wo der Vater erneut als Rabbiner wirkte und wo Simon Lauer aufwuchs und das Gymnasium besuchte. Kurz vor der Matura erkrankte er an Tuberkulose. Das zwang ihn zu einem Aufenthalt in einem Sanatorium in Davos. Dank des Einsatzes des Rektors seines Bieler Gymnasiums konnte Lauer die Maturaprüfung in Davos absolvieren. Nach seiner Genesung studierte er an der Universität Bern klassische und semitische Philologie. Ein verbrachte er an der Hebräischen Universität Jerusalem und wurde dort zum Fachmann für Judaistik.
1957 promovierte er und wurde Gymnasiallehrer. Er unterrichtete im Kanton Glarus und in St. Gallen an den dortigen Kantonsschulen alte Sprachen und galt als strenger und von einer tiefen Liebe zu seinem Fachgebiet geprägter Lehrer.
1981 erhielt er den Ruf nach Luzern und konnte sich nun an der Seite von Clemens Thoma hauptberuflich der Judaistik widmen. Gemeinsam mit Thoma gab er die beiden ersten Teile der Reihe «die Gleichnisse der Rabbinen» heraus. 1982 war Simon Lauer Mitbegründer und Gründungspräsident er «Schweizerischen Gesellschaft für judaistische Forschung». Auch durch seine langjährige Tätigkeit als Redaktor der Fachzeitschrift «Judaica» gab er der einst von den Sichtweisen der christlichen Theologie beherrschten Judaistik eine eigenständige jüdische Perspektive ganz im Sinne der klassischen deutschen «Wissenschaft des Judentums», der sich Lauer ein Leben lang verpflichtet fühlte. Als Herausgeber der wissenschaftlichen Buchreihe «Judaica et Christiana» förderte er auch das wissenschaftliche Gespräch zwischen den Religionen. Mit seinen Erinnerungen hat Lauer 2003 unter dem Titel «Wandern – Verlieren – Finden» seiner Familie ein Denkmal gesetzt. Darin rekapituliert er vor dem Mikrokosmos seiner orthodoxen Gelehrtenfamilie die Geschichte von hundert Jahren europäischem Judentum und schildert den Weg von der Zeit der Hochblüte des deutschen Judentums um 1870 über seinen Untergang nach 1933 hinaus. Die Schweiz, ihre Bildungsstätten sowie ihre jüdische Gemeinschaft spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig sind die Jahre seit 1970, die im Zeichen des Brückenbaus zwischen Christentum und Judentum stehen.
Lauer, der früh verwitwet war, zog nach seiner Pensionierung nach Basel. Schliesslich liess er sich in Zürich nieder, nahe seiner beiden Kinder und den Enkeln. Er durfte noch die Geburt eines Urenkels miterleben.
Das IJCF wird das Andenken von Simon Lauer ז“ל in Ehren halten. יהי זכרו ברוך