Zwischenraum
Reportage von Jan Emmanuel Harry
Zwei Menschen, die sich durch den Zwischenraum Zentralschweiz kennengelernt haben, sprechen von ihren Freuden und Leiden, Hoffnungen und Ängsten, um uns einen Blick ins Zusammenspiel von Queerness und christlicher Religiosität zu ermöglichen.
Es bleibt ein polarisierendes Thema: Der Umgang mit queeren Personen im kirchlichen Kontext. So sprachen sich mehrere (nicht alle!) Kirchengemeinschaften der Schweiz gegen die Ehe für alle-Initiative aus und die Aussage von Papst Franziskus in 2020, dass auch homosexuelle Menschen Kinder Gottes seien, die man nicht verstossen sollte, sorgte weltweit für Schlagzeilen. Diese weitreichende öffentliche Reaktion lässt vermuten, dass gesellschaftlich eine Art Unvereinbarkeit oder Spannung zwischen christlicher Religiosität und Queerness vorausgesetzt wird. Doch was steckt dahinter?
Die Stimme von Betroffenen
Ich traf Doris und Robert an einem kühlen Morgen, um mit ihnen über ihre Erfahrungen bezüglich Religion und Sexualität und den Zwischenraum Zentralschweiz zu sprechen. Mir begegneten zwei sympathische und ehrliche Menschen, die es schätzten, dass ihre Community durch das geplante Interview zu Wort kommen sollte. Denn auch sie meinten, dass diese Spannung zwischen Christentum und Queerness eine Unvereinbarkeit projizierte, die nicht unbedingt als abschliessend angenommen werden muss.
Doris und Robert, beides queere Menschen mit christlichem Hintergrund, erzählen nämlich beide sehr offen, wie sie ihrem christlichen Glauben folgen können, ohne ihre Sexualität zu verdrängen. Es wird deutlich, dass beide in ihrer Religiosität mit existenziellen Fragen bezüglich ihrer Sexualität konfrontiert waren, denn was als Sünde gepredigt wird, gehört zu ihrem tiefsten Selbst. Doris, welche in freikirchlichen Kreisen aufgewachsen ist, führt aus, dass sie sich in ihrer Kirchgemeinde zunehmend wie eine Christin zweiter Klasse gefühlt habe, bis sie dann der Kirche als Institution den Rücken kehrte. Diese Entscheidung treffen einer amerikanischen Studie zufolge viele religiöse queere Menschen als ersten von vier Schritten. Nach der Ablehnung der Kirche folgt der Studie zufolge sehr oft die Ablehnung der Sexualität und nach einer Zeit der Separierung von Religion und Sexualität erfolgt dann die Integration von beidem als eigene Identität.
Auch Robert war konfrontiert mit Sorgen und Zweifeln und musste seinen eigenen Umgang mit den christlichen Schriften und Lehren finden. Er ist zum Schluss gekommen, dass er an den guten, barmherzigen Gott, welcher nicht über seine Sexualität urteilt, ihn nämlich genau so erschaffen hat, glaubt.
Es war der Zwischenraum Zentralschweiz, durch welchen die beiden eine neue Gruppe fanden, in welcher sie über ihr ganzes Ich, Religion und Sexualität nun zugleich integriert, offen sprechen konnten.
Zwischenraum Zentralschweiz
Der Zwischenraum Zentralschweiz ist kein Ort, der lokal auf einer Karte ausgemacht werden kann, sondern ein Raum, welcher durch die teilnehmenden Personen kreiert wird. So treffen sie sich mal bei jemandem zu Hause, mal in einem Restaurant oder im Freien, um über ihre persönlichen Geschichten zu diskutieren. Teils handeln diese Gespräche von emotionalen, philosophischen, religiösen oder gesellschaftlichen Themen. Es können aber auch bloss Witze oder Geschichten von der Arbeit ausgetauscht werden. Der Zwischenraum ist also keine Kirchengemeinschaft, sondern ein interkonfessioneller Treffpunkt für Menschen, die sowohl Christ:innen als auch queer sind.
Zum Autor
Jan Emanuel Harry ist Masterstudent am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern und arbeitet neben anderen Tätigkeiten als Guide bei Dialogue en Route (IRAS COTIS) mit. Sein Ziel ist es, jungen Menschen die verschiedenen Religionen und Geschichte durch den Lehrberuf näher zu bringen.