Visualpedia. 'Atlas Encyclopaedia Cinematographica' and the Visual Science and Technology Studies
gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaften, Ambizione-Beitrag (201759, 09.2022–08.2026)
Projektverantwortliche: Dr. Sarine Waltenspül
W.J.T. Mitchell, der 1992 den Pictorial Turn verkündet hat, diagnostiziert unserer Gegenwart im Jahre 2020 „a certain pathology that has now become endemic in the era of Google Images“: „Iconomania“ – oder präziser „atlas fever“. Dieses Fieber zeigt sich in der Obsession für visuelle Datenbanken, die vorgeben, Wissen möglichst vollständig zu erfassen, anzuordnen und zugänglich zu machen. Das atlas fever hat historische Vorläufer. Einer davon ist der zentrale Gegenstand von Visualpedia: die Encyclopaedia Cinematographica (EC), ein international von Dauer und Umfang außergewöhnliches Großvorhaben filmischer Forschung, das offiziell von 1952-90 bestand. Die EC gehörte dem Institut für den wissenschaftlichen Film in Göttingen (IWF) an und betrieb die Produktion, Sammlung sowie Distribution von Filmen für Wissenschaftler*innen in großem Stil. Ziel war eine Enzyklopädie filmisch erfasster Bewegungen aus der Biologie, Ethnologie und den technischen Wissenschaften. Die EC umfasste zum Ende hin über dreitausend Filme von Hunderten von Wissenschaftler*innen. Die Filme wurden international ausgeliehen und verkauft.
Bis heute sind die EC-Filme als Found-Footage-Material in Wissenschaft und Kunst beliebt. 2010 wurde das IWF aufgelöst und die Sammlung gelangte in die Technische Informationsbibliothek Hannover (TIB), die den Bestand digitalisiert und zu großen Teilen online zugänglich macht. Diese Veröffentlichung bringt neue Herausforderungen mit sich, die mitunter auf die Provenienz der Filme, deren Urheber*innen oder auf deren Inhalt zurückgeführt werden kann. Die Fragen, was gezeigt werden darf, was zirkuliert werden darf, und wer schauen darf – und wer nicht –, sind dabei zentral.
Im Rahmen des Projekts Visualpedia soll nun die Geschichte der EC aufgearbeitet und die Gegenwart der Sammlung im Internet befragt werden. Die allgemeine forschungsleitende Fragestellung ist, wie dem atlas fever, also der Obsession mit und der Faszination für Großbildsammlungen und deren Systematisierung am Beispiel der Encyclopaedia Cinematographica unter Berücksichtigung der wissens- und medienhistorischen wie politischen Bedingungen beizukommen ist. Allgemeines Ziel von Visualpedia ist eine Ausarbeitung der Visual Science and Technology Studies. In diesem Zusammenhang entsteht auch der hybride Reader Visual STS in Zusammenarbeit mit Intercom (herausgegeben von Estelle Blaschke, Mario Schulze, Sarine Waltenspül, in Vorbereitung).
Visualpedia umfasst zwei Teilprojekte: Ziel des ersten Teilprojekts ist es, mit der historisch-kritischen Aufarbeitung der Geschichte und Sammlung der EC eine fundierte und methodisch reflektierte Basis zu schaffen, um anderen Wissenschaftler*innen und Künstler*innen die weitere Beschäftigung mit der EC zu ermöglichen. An dieses anschließend widmet sich das zweite, praktischer orientierte Teilprojekt der Frage, wie eine mitunter ‚sensible Sammlung‘, die in Umfang und Inhalt Tremendum und Faszinosum zugleich ist, für Forschung und Öffentlichkeit umsichtig aktiviert werden kann. Es werden – als Beitrag zu den Critical Digital Humanities – verschiedene Interfaces entwickelt. Ebenso findet von November 2024 bis März 2025 die im Projekt entwickelte Ausstellung „Fadenspiele / String Figures – eine forschende Ausstellung“ im Museum Tinguely Basel statt, in der mitunter die ethnologische Sektion der EC im Fokus steht.
Projektleitung:
Sarine Waltenspül
Mitarbeiter*innen:
Seraina Dür, künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin
Jonas Gillmann, künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter
Moritz Greiner-Petter, künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter/Design
Mario Schulze, Postdoc/Kurator
Kollaborationspartner*innen:
Mareile Flitsch, Völkerkundemuseum Zürich
Oliver Gaycken, University of Maryland
Mathias Grote, Universität Greifswald
Anke te Heesen, Humboldt-Universität zu Berlin Estelle Blaschke, Universität Basel
Andres Pardey, Museum Tinguely Basel
Anja Sattelmacher, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Felix Sattler, Tieranatomisches Theater Berlin/Knowledge Lab Universität Bonn