Kulturelle Vielfalt im Medizinrecht

Wie kann das Gesundheitssystem den besonderen Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturkreisen angemessen Rechnung tragen? Dieser Frage geht ein vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördertes Projekt unter der Leitung der Universitäten Luzern und Basel nach.

Close-up hand image of a serious patient having a medical consultation with a doctor
Bild: ©istock.com/BongkarnThanyakij

Das schweizerische Medizin- und Gesundheitsrecht beruht auf dem Menschenbild von selbstbestimmten und rational handelnden Patientinnen und Patienten. Diese treffen nach hinreichender Aufklärung – gewissermassen auf Augenhöhe mit der Ärztin oder dem Arzt – einen selbstbestimmten Entscheid über die Durchführung des medizinischen Eingriffs. Dieser Entscheid soll auf der Basis einer kritischen Beurteilung der medizinischen Diagnose sowie einer sorgfältigen Abwägung von Nutzen gegen Risiken und Belastungen einer Behandlung oder Nichtbehandlung getroffen werden. In gleicher Weise legt die Patientin oder der Patient vorsorglich medizinische Massnahmen fest, die bei einer allfälligen künftigen Urteilsunfähigkeit zu treffen oder zu unterlassen sind.

Neue Herausforderung

Das dem Medizin- und Gesundheitsrecht zugrundeliegende Menschenbild stimmt jedoch mit der Realität oftmals nicht überein. Im Fokus des neuen Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Regina E. Aebi-Müller, Prof. Dr. Bernhard Rütsche und Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam (Universität Basel) stehen Patientinnen/Patienten und deren Angehörige, deren Wertvorstellungen und Bedürfnisse in Bezug auf die medizinische Versorgung von den Rationalitätsvorstellungen abweichen, wie sie unsere Rechtsordnung implizit voraussetzt. Solche als «irrational» oder «unvernünftig» erscheinenden Werthaltungen und Bedürfnisse können aufgrund von Traditionen und Weltanschauungen in der Herkunftsgesellschaft, Religionszugehörigkeit oder aus anderen Gründen soziokulturell geprägt sein. Zu denken ist etwa an Vorbehalte gegenüber bestimmten Medizinprodukten, metaphysische Vorstellungen von Krankheit und Tod oder Entscheidungszuständigkeiten innerhalb der Familie. Damit ist das Gesundheitssystem täglich – und aufgrund der globalen Migration sowie der Segmentierung von Wertvorstellungen und Lebensweisen in zunehmendem Mass – konfrontiert. Häufig sind Patientinnen und Patienten sowie ihre gesetzlichen Vertreter, die den rechtlichen Unterstellungen rationaler Entscheidungsfindung nicht entsprechen, in ausgeprägtem Mass verwundbar und diskriminierungsgefährdet.

Davon ausgehend untersucht das Forschungsprojekt mit seinen drei aufeinander abgestimmten Teilprojekten aus zivil-, öffentlich- und strafrechtlicher Perspektive, ob das geltende Medizin- und Gesundheitsrecht der Diversität soziokulturell geprägter Werte und Verhaltensweisen hinreichend Rechnung trägt und inwiefern in der Praxis der medizinischen Versorgung oder durch Anpassungen der Rechtslage Verbesserungen angezeigt sind.

 

  • Titel des Projekts: «Kultursensibles Medizinrecht– Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit soziokulturell bedingter Diversität in der Gesundheitsversorgung»
  • Leitung: Prof. Dr. Regina E. Aebi-Müller und Prof. Dr. Bernhard Rütsche, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern; Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam (Universität Basel)
  • Projektbeteiligte Mitarbeitende: Dr. Tanja Coskun-Ivanovic, Wissenschaftliche Assistentin (Universität Luzern) sowie zwei Doktorierende und eine Hilfsassistenz (noch zu bestimmen)
  • Projektdauer: Juli 2024 bis Juni 2028
  • Bewilligte Fördersumme insgesamt: rund 1‘116‘000 Franken

 

Eintrag des Projekts im SNF-Datenportal

Eintrag in der Forschungsdatenbank der Universität Luzern