100 Tage: Professurvertreterin Federica Gregoratto im Gespräch
Federica Gregoratto vertritt seit Anfang September zu 75% den Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie des neuen Rektors Martin Hartmann. Im Interview berichtet sie von ihrem Start in Luzern und gibt Einblick in ihre Forschung und Lehre.
Federica Gregoratto, wie haben Sie sich an der Universität Luzern eingelebt?
Federica Gregoratto: Reibungslos. Alle Kolleginnen und Kollegen sind sehr nett und hilfsbereit. Wie eigentlich fast immer in der Schweiz habe ich mich sehr willkommen gefühlt. Und der Seeblick aus dem Fenster in den Seminarräumen ist atemberaubend!
Was ist bisher Ihr Highlight?
In diesem Semester habe ich zusammen mit Prof. Dr. Nadja El Kassar die Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie gehalten. Während meine Kollegin den Bereich der theoretischen Philosophie übernommen hat, habe ich mich mit Grundproblemen der praktischen Philosophie beschäftigt. Zuvor konnte ich bereits vielfältige didaktische Erfahrungen an verschiedenen Universitäten und in unterschiedlichen Ländern und Sprachen sammeln. Dies war jedoch das erste Mal, dass ich eine Vorlesung hielt.
Wie haben Sie diese erlebt?
Es war eine interessante und zugleich ernüchternde sowie herausfordernde Erfahrung. Ich bin der Ansicht, dass Dozierende in Einführungsvorlesungen im Vergleich zu anderen Unterrichtsformaten eine grössere Einflussnahme besitzen: die Möglichkeit, Autorinnen und Autoren, Themen und Fragestellungen auszuwählen, die sie als geeignet erachten, um einen glaubwürdigen Einblick in die Disziplin zu bieten. Sie entscheiden, wer und was in den philosophischen «Kanon» gehört, aber auch, welche Autorinnen und Autoren und Texte den Kanon problematisieren und revidieren könnten. Diese Macht, die mit einer gewissen Verantwortung verbunden ist, empfinde ich als spannend und gleichzeitig etwas unbequem.
Welche weiteren Lehrveranstaltungen führen Sie zurzeit durch?
Ausser Vorlesungen habe ich dieses Semester ein Hauptseminar zur Philosophie der Depression und ein Seminar über Søren A. Kierkegaard veranstaltet. Im Hauptseminar haben wir unterschiedliche begriffliche Perspektiven auf diese sowohl psychische als auch leibliche «Krankheit» artikuliert und analysiert. Mit der Hilfe philosophischer, aber auch psychoanalytischer, soziologischer und literarischer Texte haben wir versucht, die Erfahrung der Depression zu beschreiben und zu verstehen sowie einige ihrer Wurzeln zu rekonstruieren, die nicht nur psychologischer, sondern auch sozialer und politischer Natur sind.
Worum geht es in dem Seminar über Kierkegaard?
Dieses steht in einer gewissen Kontinuität zum Hauptseminar: Seine Werke halten wichtige konzeptuelle Werkzeuge wie «Angst», «Verzweiflung» und «Wiederholung» bereit, die wesentlich zum Verständnis verschiedener Formen menschlichen und existenziellen Leidens beitragen. Darüber hinaus bewegen wir uns dank dieser Lektüren an die Grenzen der Philosophie und der menschlichen Vernunft, was eine frustrierende, aber gerade deswegen auch erfrischende und produktive philosophische Übung sein kann.
Was planen Sie nächstes Semester in der Lehre?
Ein Hauptseminar über eine der berühmtesten, faszinierendsten und am häufigsten diskutierten abendländischen Philosophien: Das Kapitel zum Selbstbewusstsein in Hegels «Phänomenologie des Geistes». Ausserdem werde ich ein Seminar über «Gaslighting» halten – ein heisses Thema sowohl in akademischen Kreisen als auch in den sozialen Medien, im Feuilleton und in therapeutischen Kontexten. Worin genau diese Form zwischenmenschlicher und politischer Manipulation oder Macht besteht, muss klarer und präziser definiert werden – hoffentlich kann die Philosophie dabei helfen.
Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung?
In den letzten Jahren habe ich mich hauptsächlich mit Fragen der Liebe, Freundschaft, Sexualität und Affektivität aus sozialkritischer und politischer Sicht auseinandergesetzt. Meine Monografie «Love Troubles: A Philosophy of Eros», an der ich sehr lange gearbeitet habe, wird im Januar 2025 bei Columbia University Press erscheinen. Dennoch spüre ich weiterhin das Bedürfnis, über die Probleme, die sich an der Schnittstelle zwischen privaten bzw. intimen und öffentlichen sozialen Sphären ergeben, zu denken, zu schreiben und zu reden.
Arbeiten Sie bereits an weiteren Projekten?
Ein anschliessendes Projekt zur zeitgenössischen Debatte um Anerkennungstheorie befindet sich noch in einer frühen Phase. Ich untersuche dabei mögliche (früh-)romantische Beiträge in der deutschen und englischen Literatur – etwa von Friedrich Schlegel, Karoline von Günderrode sowie Percy B. und Mary Shelley.
Mein aktuelles Hauptprojekt beschäftigt sich mit einer politischen und sozialkritischen Philosophie der Depression. Ich untersuche, was Depression bedeutet – nämlich eine individuelle sowie strukturelle und kollektive Erfahrung des Verlusts dessen, was Hegel als «konkrete Freiheit» bezeichnet. Ausserdem möchte ich erklären, warum eine solche Unfreiheit entsteht, die uns die Möglichkeit nimmt, uns in der sozialen und natürlichen Welt «zu Hause» zu fühlen. Geprägt wird sie durch ökonomische, heterosexistische, rassistische und kolonialistische Herrschaftsformen.
Und was steht in Zukunft an?
In den nächsten Jahren möchte ich hauptsächlich an meinem Buch über Depression arbeiten. Zudem plane ich, Drittmittel zu beantragen, um das Projekt weiter zu vertiefen – beispielsweise durch eine multidisziplinäre Ausrichtung. Ich bin überzeugt, dass dieses Thema höchst aktuell und relevant ist, da es ein besseres Verständnis der Auswirkungen globaler Krisen auf die menschliche Gesundheit fördern kann. Dazu zählen die Klimakatastrophe, demokratische Legitimationskrisen, Kriege und andere Ereignisse, die unsere menschliche Lebensform bedrohen.