«Sinergia»-Forschungsprojekt: Doktorarbeiten erschienen
Forschende der Universität Luzern waren an der Nationalfonds-Verbundstudie «Doing House and Family» beteiligt. Nun sind die beiden in diesem Rahmen entstandenen Dissertationen erschienen; sie sind open access abrufbar.
Die beiden Studien von Dunja Bulinsky und Anne Schillig sind am Historischen Seminar unter der Betreuung von Prof. Dr. Jon Mathieu, (inzwischen) emeritierter Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit, entstanden. Sie liegen nun publiziert vor mit den Titeln «Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld», zum anderen «Hausgeschichten. Materielle Kultur und Familie in der Schweiz (1700–1900)» (beide im Chronos Verlag, Zürich).
Naturforschung – ein Familienprojekt
Dunja Bulinsky beschäftigt sich mit dem Zürcher Mediziner und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer. Dieser war gut vernetzt und korrespondierte mit zahlreichen Gelehrten aus der Schweiz und Europa. Neuere Forschungen über Wissenschaft und Wissenschaftler in der Frühen Neuzeit richten den Fokus auf die Briefwechsel unter den Mitgliedern der «Gelehrtenrepublik», denn Korrespondenz spielte in der Wissensproduktion eine wichtige Rolle. Bulinskys Studie indes untersucht Scheuchzers soziales Netz unterhalb der Schwelle der Gelehrtenrepublik und schliesst damit eine Forschungslücke. Frühneuzeitliche Naturforschung war häufig ein Familienprojekt, zahlreiche Helferinnen und Helfer waren daran beteiligt. Die Autorin beleuchtet den wissenschaftlichen Beitrag von Susanna Vogel, der Ehefrau Scheuchzers, den gemeinsamen Söhnen, dem jüngeren Bruder Johannes und drei Schülern, die ihr Lehrjahr bei Scheuchzer in Zürich verbrachten. Sie zeigt Scheuchzers Einbettung in Zürcher Institutionen auf – er war Kurator der Bürgerbibliothek und Kunstkammer, Mathematiklehrer am Collegium Carolinum und aktives Mitglied der Akademie Collegium der Wohlgesinnten – und erläutert die Bedeutung dieser Orte des Wissens für seine Forschung. Schliesslich widmet sie sich der naturgeschichtlichen Mitarbeit von «Ungelehrten» wie Jägern oder Bauern, mit denen Scheuchzer auf seinen zwischen 1694 und 1711 unternommenen wissenschaftlichen Bergreisen zusammentraf. Durch den Einbezug bislang kaum untersuchter Quellen gewährt die Studie einen neuen Blick auf die verborgenen Mechanismen der Wissensgenerierung in der frühneuzeitlichen Naturforschung. Mehr Informationen und «Open Access»-Abruf
Dynamisches ländliches Wohnen
In Anne Schilligs Dissertation geht es um das Haus als ein zentraler Faktor für die Reproduktion der Familie. Es beeinflusst die Beziehungen ihrer Mitglieder, strukturiert deren Alltagsleben und organisiert demografische Kenngrössen wie Alter oder Geschlecht. In der Studie wird das Verhältnis von Häusern und Familien in der ländlichen Schweiz des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht. Den Ausgangspunkt bilden die «Bauernhäuser der Schweiz», eine mehr als 30 Bände umfassende Publikationsreihe über ländliche Wohn- und Wirtschaftsbauten aller Regionen des Landes. Die Autorin nutzt diese umfangreiche Materialsammlung erstmals für eine Untersuchung der Beziehungen von materiellen und sozialen Sphären zwischen 1700 und 1900. Deutlich wird nicht nur, wie ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung während dieser Zeit wohnte, sondern auch, welche strukturellen Veränderungen Häuser und die darin lebenden Familien durchliefen. Mit «Hausgeschichten», deren Quellen Häuser inner- und ausserhalb des Freilichtmuseums Ballenberg sind, leistet die Arbeit zudem einen methodischen Beitrag zur materiellen Kulturforschung. Die Fallbeispiele zeigen, dass ländliches Wohnen in der Schweiz dynamisch war und sozial-materielle Grenzen nicht in Stein gemeisselt, sondern situativ wandelbar gewesen sind. Mehr Informationen und «Open Access»-Abruf
Dr. Dunja Bulinsky arbeitet seit ihrer Promotion als freischaffende Historikerin; momentan ist sie im Rahmen des Kulturprojekts «Innereien» der Albert Koechlin Stiftung an der Realisierung eines Theaterstücks über Baltz Mengis, Luzerner Scharfrichter von 1641 bis 1700, beteiligt und schreibt an einem Buch zu diesem Thema. Dr. Anne Schillig ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern und am Departement Soziale Arbeit der ZHAW Zürich tätig.
Kollaborativ und interdisziplinär
«Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700–1850)» ist ein Forschungsprojekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Instruments «Sinergia» von 2015 bis Ende 2018 mit insgesamt rund 2 Mio. Franken gefördert wurde. Sinergia unterstützt die Zusammenarbeit von zwei bis vier Forschungsgruppen, die, wie es auf der SNF-Website heisst, «interdisziplinär und mit Aussicht auf bahnbrechende Erkenntnisse forschen». Die Hauptleitung von «Doing House» war an der Universität Bern angesiedelt; beteiligt waren Forschende der Universitäten Basel, Lausanne und Luzern. Prof. Dr. Jon Mathieu hat zum Abschlussband «The Routledge History of the Domestic Sphere in Europe. 16th to 19th Century» den Auftaktaufsatz «Domestic Terminologies. House, Household, Family» beigetragen. Die Universität Luzern war bislang in sechs Sinergia-Projekten involviert; beim neuesten, 2019 angelaufenen, «In the Shadow of the Tree» (Magazin-Interview zum Thema), fungiert sie erstmals als Leading House.