Natur, Kultur und Wahrnehmung
Vom 30. September bis 2. Oktober hat die Tagung "Nature, Culture and Perception. From the Amazon to the Alps" der Stiftung Lucerna in Kooperation unter anderem mit der Universität Luzern stattgefunden. Reflexionen von drei Tagungsteilnehmerinnen.
An der Konferenz wurde der Blick auf drei Begrifflichkeiten gerichtet: Natur, Kultur und Wahrnehmung. Blicken, schauen, erkennen, Fähigkeiten, die wir dank einem unserer fünf Sinne, dem Sehsinn, besitzen. Damit auch weiter, die Fähigkeit, unsere Augen zu verschliessen und wegzuschauen. Gerade dieser Sinn wurde am ersten Tagungstag angesprochen, durch Filme von Künstlern aus aller Welt im Kino Bourbaki Luzern. Filme werden geschaut. Und gehört.
Mit- statt Um-Welt
Wir hörten den schmelzenden Gletscher, den sterbenden Giganten, die Schreie des Dschungels, die Tropfen des blutenden Kautschukbaumes. Der Filmabend im Bourbaki war eindrücklich. Einerseits wurde auf die Schönheit und Idylle der Natur gewiesen und andererseits der Kampf, der die Natur führt und damit ihre Fragilität gezeigt. Die Natur, die dem Menschen als Lebensraum und Ressource zu dienen scheint. Die Natur, gesehen als Umwelt. Das Leben und Überleben der Menschen hängen von ihr ab. Die Natur als Mit-Welt, statt Umwelt, mehr als das «Uns-Umgebende», wovon wir so viel nehmen? Eine Frage der Perspektive?
Pascalle Wassink
Was mir vom zweiten Tag der Tagung am meisten hängen blieb, ist das Konzept der "Perception" – Wahrnehmung. Als ich den Flyer zum ersten Mal las, konnte ich mir nicht so genau vorstellen, was dieses Wort im Titel zu suchen hatte. Natur und Kultur, ja, diese beiden Begriffe kannte ich von der Uni und glaubte zu wissen, was man unter diesen verstehen kann.
Doch diese Sicherheit wurde mir bereits in der Einführung von Boris Previšić, SNF-Förderprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität, Präsident der Stiftung Lucerna und Co-Organisator der Tagung, genommen. "Was ist überhaupt Natur?", fragte er dort. Was gehört dazu und was nicht? Ist die Natur einfach nur Umgebung oder zählen wir uns mit dazu? Ist unser Verhalten nicht genau Spiegelbild unser Wahrnehmung der Natur?
Wer ist mit "wir" gemeint?
Es stellte sich heraus, dass sich diese Fragen rund um "Perception" wie ein roter Faden durch die Tagung ziehen würde. So zum Beispiel beim Vortrag von Dr. Sarah Cornell vom Stockholm Resilience Center der Universität Stockholm, die uns den Blick der Wissenschaft auf die Natur vorstellte, davon sprach, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Welt als ihre Komponenten sehen und davon, dass die Menschheit eigentlich weiss, dass sie für den Klimawandel verantwortlich ist. "But who is the 'we'?", fragte sie dann. Wer ist diese Menschheit? Nehmen wir uns selbst als eine grosse Gesellschaft wahr? Und nehmen wir alle die Welt als gleiche wahr? In der auf diesen Vortrag folgenden Diskussion meinte Cao Guimarães, Künstler aus Belo Horizonte und Montevideo, dann auch: "Science gives us certantiy that things are the way they are, but we don’t know how to act on the following catastrophe." Und Daniel Speich Chassé, Professor für Globalgeschichte an der Universität Luzern, brachte es später auf den Punkt, als er von einem Konflikt in der Wahrnehmung sprach: "If we don’t have the same perception of what nature is, how should we find a global solution to help it?"
"Menschliche" Tiere und Pflanzen
Das Konzept der Wahrnehmung wurde im letzten Vortrag des Tages, dem Vortrag von Dr. Mabe Bethônico, Künstlerin und Wissenschaftlerin aus Belo Horizonte, nochmals beleuchtet, als sie die Idee des Anthropomorphismus vorstellte. Darunter versteht man die Vorstellung gewisser indigener Völker, derzufolge alles (Tiere, Pflanzen, Steine etc.) einen menschlichen Anteil besitzt. In unserer westlichen Perspektive tendieren wir eher dazu, uns Menschen von allen anderen zu differenzieren. Wir unterscheiden zwischen Leben und Nicht-Leben, zwischen Mensch und Nicht-Mensch. Ist aber alles menschlich, auch die Tiere und die Pflanzen, so wäre jede Beziehung zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Pflanze eine soziale und politische. Am Ende des Vortrages meldete sich ein Mann aus dem Publikum und warf die Idee in den Raum, dass genau diese Weltsicht der indigenen Völker die Lösung unseres Problems sein könnte. Wenn die Natur auch menschlich ist, dann hat sie auch ihre Rechte und wir könnten ihr eine Stimme geben. Doch ist dies wirklich notwendig?, fragte eine Frau aus dem Publikum: "Maybe nature already has a voice. So it’s not us who have to give nature a voice. What we have to do is change our perception in order to hear that voice."
Vielleicht sind es genau Wissenschaft und Kunst, die uns helfen können, diese Stimmen zu hören. Die Kunst, indem sie uns in Form von Film und Geräuschen in die Natur eintauchen lässt, anstatt sie immer nur von aussen zu betrachten. Und die Wissenschaft, indem sie uns die Welt besser verstehen lässt und somit unsere Wahrnehmung erweitert. Wahrnehmung ist also nicht nur ein Randpunkt neben Natur und Kultur, sondern die Verbindung dieser beiden Begriffe. Mit diesem Wissen können wir uns jetzt der Frage stellen, die Boris Previšić in der Einführung in den Raum warf: "How can we configure our culture in order to hear the voices of nature?"
Séverine Huwyler
Zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit
Am Mittwoch machten wir den Brückenschlag vom Amazonas in die Alpen und führten die Tagung im Haus für Kunst Uri in Altdorf, am Fusse der Glarner Alpen, fort. Die hier gezeigte Ausstellung "Natur. Zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit" präsentiert ein facettenreiches Spektrum von Werken 36 Kunstschaffender, welche die Natur, unsere Vorstellungen davon sowie unsere Eingriffe an dieser thematisieren. Eine düstere Perspektive auf die Wirklichkeit wirft Isabelle Krieg: Ihre zwei Strausseneier, ungeschützt in löchrigen Netzstrumpfhosen, tragen den Titel "Die Welt am Arsch". Sehnsucht hingegen ruft Cao Guimarães’ Film "Concerto para Clorofila" hervor, einer Reise durch die Farben und Formen der Natur und eine Hommage an ihre Vollkommenheit. Das Werk war als einer von fünf Kurzfilmen auch am ersten Tagungstag um Luzerner stattkino gezeigt worden.
An den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft knüpfte Jon Mathieu, emeritierter Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit an der Universität Luzern, mit einem historischen Blick auf die Waldnutzung der letzten drei Jahrhunderte in den Schweizer Alpen an. Aber auch einen Blick nach vorn kann vielversprechend sein, wie uns der Vortrag von Barbara Keller, Stv. Direktorin des Alpinen Museums der Schweiz in Bern, über sechs Entwürfe für die Zukunft des nationalen Wasserhaushaltes zeigte. Der dringlichen Frage nach Nachhaltigkeit wird schliesslich aus rechtsökonomischer Sicht durch Klaus Mathis, Ordinarius für Öffentliches Recht, Recht der nachhaltigen Wirtschaft und Rechtsphilosophie, nachgegangen. Wie gelangen wir dahin, die Natur als Subjekt und nicht bloss als ökonomische Ressource anzusehen? Der Regenwald schreit, der Gletscher grollt: Der Natur wurde an dieser Tagung durch künstlerische und wissenschaftliche Beiträge eine Stimme gegeben. Hören wir hin.
Aline Stadler
Pascalle Wassink, Séverine Huwyler und Aline Stadler sind Studentinnen der Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Sie haben die Tagung als Teilnehmerinnen des mit dem Anlass verbundenen Blockseminars "Natur und Wahrnehmung" von Prof. Dr. Boris Previšić besucht. Von Pascalle Wassink ist ein ausführlicher Bericht zu allen drei Tagen verfügbar. Neben dem Rückblick hat Aline Stadler als Vorschau zur Tagung für Radio 3fach ein Interview mit Professor Previšić realisiert. Ebenfalls im Vorfeld war in "cogito", dem Wissensmagazin der Universität Luzern, ein Artikel von Jonas Perrin, der zum Thema indigiene Landrechte doktoriert, erschienen.
Co-Organisator der unter dem Patronat des Club of Rome stehenden, als Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft konzipierten Tagung war Dr. Bruno Z'Graggen, Kurator von Video Window. Die öffentliche und kostenlos besuchbare Veranstaltung wurde von der universitären Forschungskommission und vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell gefördert.