Doktorarbeit zu geflüchteten Studierenden an Schweizer Hochschulen

In seiner Dissertation erforschte Marino Ferri den Umgang von Schweizer Hochschulen mit geflüchteten Studierenden zwischen 1945 und 1975. Durch den Krieg in der Ukraine gewinnt das Thema traurigerweise an Aktualität. Was aus der Geschichte (nicht) gelernt werden kann, erklärt Ferri im Interview.

Marino Ferri

Marino Ferri, Sie beschäftigten sich in Ihrer Doktorarbeit mit der Zeitspanne von 1945 bis 1975. Welche Flüchtlingsbewegungen gab es in dieser Zeit Richtung Schweiz?

Marino Ferri: Einerseits gab es immer wieder kleinere Gruppen von Geflüchteten, wie beispielsweise nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg. Andererseits sind Geflüchtete aus Ungarn 1956 und aus der Tschechoslowakei 1968 die beiden grössten nationalen Gruppen, die in dieser Zeit in die Schweiz kamen. Gegenüber ihnen herrschte in der Schweiz je nach Herkunft eher eine Willkommenskultur oder eine Abwehrhaltung. So waren beispielsweise Menschen aus Algerien nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht als Flüchtlinge anerkannt.

Ein Hauptfokus Ihrer Arbeit sind die Akteure, welche die Bedingungen für die Studierenden aushandelten. Um was für Akteure handelte es sich hierbei?

Einerseits spielte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement immer eine Rolle bei Flüchtlingsfragen. Andererseits waren natürlich auch die Hochschulen selbst involviert. Mein Forschungsschwerpunkt lag aber auf den studentischen Organisationen, die sich für die geflüchteten Studierenden engagierten. Hier sind insbesondere die «Hilfsaktion für Flüchtlingsstudenten in der Schweiz», die 1970 aufgelöst wurde, und der «Verband der Schweizer Studierendenschaften» VSS zu erwähnen. Da der Hochschulzugang für geflüchtete Studierende nie institutionalisiert und rechtlich geregelt wurde, war die Arbeit dieser studentischen Organisationen sehr wichtig. Sie engagierten sich beispielsweise mit Solidaritätskampagnen, sammelten Geld und waren Anlaufstelle für Geflüchtete, die ihr Studium in der Schweiz beginnen oder fortsetzen wollten.

Nebst der Archivarbeit haben Sie auch Interviews mit geflüchteten Studierenden durchgeführt. Was für Erfahrungen wurden dabei mit Ihnen geteilt?

Aus dem Oral-History-Teil meiner Arbeit nahm ich vor allem die grosse Bandbreite an Erfahrungen, die gemacht wurden, mit. So berichtete beispielsweise eine Frau, die 1968 aus der Tschechoslowakei geflohen war, dass sie in Bezug aufs Studium nie Probleme hatte in der Schweiz, während eine Chilenin, die fünf Jahre später in die Schweiz kam, auf mehr Widerstände stiess. Da ich selbst vor allem mithilfe von Archivquellen arbeitete, sehe ich in einer umfassenderen Oral-History-Befragung grosses Potenzial für eine zukünftige Arbeit zu dieser Thematik.

Welche Erkenntnisse aus Ihrer Arbeit scheinen Ihnen für die Gegenwart zentral?

Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass aus meiner Arbeit keine Handlungsanleitung für die Gegenwart abgeleitet werden kann. Grundsätzlich hat sich aber gezeigt, dass die Aufnahme von Geflüchteten einen jahrelangen Prozess in Gang setzt und deshalb Programme und Angebote wie Sprachkurse, Unterkünfte oder psychologische Unterstützung unbedingt langfristig angesetzt werden müssen. Aus meiner Sicht hat es die Schweizer Hochschullandschaft damals verpasst, die während der Ankunft ungarischer Geflüchteter erstellten Programme in langfristige Strukturen zu überführen, die dann auch späteren Geflüchteten die Integration erleichtert hätten. Man ging davon aus, dass neue Ideen wie das eidgenössische Stipendiengesetz von 1965 die Geflüchteten auch integrieren würden, was aber nicht funktioniert hat. Obwohl der VSS mit seinem gegenwärtigen Programm «Perspektiven Studium» versucht, eine zentrale Anlaufstelle darzustellen, braucht es dafür auch Programme der Hochschulen selbst. Ähnlich wie die Fluchtbewegung 1956 scheint im Moment aber auch der Ukrainekrieg hier etwas zu bewirken und den Hochschulen klarzumachen, dass sie diese Arbeit nicht einfach den studentischen Organisationen überlassen können.
 

Mit Drittmitteln gefördert

Marino Ferri wird seine Dissertation am 12. Mai verteidigen. Die von Prof. Dr. Patrick Kury am Historischen Seminar betreute Arbeit mit dem Titel «Leiden und leisten. Geflüchtete Student:innen an Schweizer Hochschulen, 1945–1975» wird voraussichtlich im nächsten Jahr publiziert. Ferris Doktorarbeit wurde mit einem Doc.CH-Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds gefördert (frühere Newsmeldung). Zuvor hatte er von der fakultären Graduate School eine Anschubfinanzierung für die Ausarbeitung seines Dissertationsprojekts erhalten.

Das Interview wurde von Corinne Huwyler geführt. Sie studiert Geschichte und Politikwissenschaft im Master.