Mit der Berufung von Erdal Toprakyaran, Professor für Islamische Theologie, wird in Luzern die Erforschung des Dialogs zwischen Christentum, Judentum und Islam möglich. Bei allen Unterschieden der Religionen gebe es auch viel Verbindendes.
Erdal Toprakyaran, um was geht es bei Ihrer Forschung in Luzern?
Erdal Toprakyaran: Es geht um die Geschichte und Gegenwart der islamischen Religion und Mystik. Von besonderem Interesse ist für mich, wie das Zusammenleben der drei grossen monotheistischen Religionen funktioniert. Zudem setze ich einen Fokus auf Europa.
Wie sieht die islamische Theologie aus, welche Facetten gibt es?
Zuerst einmal muss man wissen, dass es eine islamische Theologie bereits recht früh gegeben hat. Darunter versteht man die sogenannte systematische Theologie, aber auch das Studium des Korans, das islamische Recht, die Mystik und die Philosophie. Heute befassen wir uns mit zwei Bereichen: Wir untersuchen, wie die Theologie im historischen Kontext entstanden ist und wie sie sich entwickelt hat. Aber gleichzeitig richtet sich unser Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart. Wir können nicht einfach die Theologie von damals für die heutige Zeit übernehmen. Jedes Land hat seine spezifischen Fragestellungen und Bedürfnisse, etwa die Ausbildung von Imamen und Imaminnen. Von der Tradition her brauchte es keine akademische Ausbildung dafür, doch angesichts der heutigen Herausforderungen, die unter anderem seelsorgerische Fähigkeiten notwendig machen, geht das nicht mehr. In komplexen, westlichen Gesellschaften brauchen wir Imame mit besonderen Fähigkeiten, die in der Vergangenheit nicht erforderlich waren.
Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zum Christentum?
Da möchte ich zuerst darauf hinweisen, dass es sehr viele Gemeinsamkeiten gibt, etwa, wenn es um die Figur Jesus geht. Dieser wird im Islam als Prophet respektiert und verehrt. Wie Mohammed betrachtete man ihn allerdings als Menschen. Ähnlich verhält es sich mit David, Abraham und so weiter. Aus islamischer Sicht sind das Propheten, die mit Gott im Austausch waren. Wer sich also negativ über sie äussert, wäre eigentlich keine richtige Muslimin, kein richtiger Muslim. Allerdings wird die Vorstellung, dass Jesus Gottes Sohn ist, abgelehnt. Ein wichtiger Unterschied ist auch, dass es im Islam keine Kirche wie im Christentum gibt. Moscheen haben nicht denselben Status wie eine christliche Kirche. So muss man beispielsweise nicht Mitglied einer Moschee sein, um Muslimin, Muslim zu sein. Moscheen sind daher nicht wie eine Kirche, wo sich die Menschen zu einer eingetragenen Religionsgemeinschaft und Weltkirche zugehörig fühlen.
Worin unterscheidet sich der Islam vom Judentum?
Die Religion, die später kommt, negiert ein Stück weit die bestehenden Glaubensrichtungen. Ansonsten sind aber vor allem die Gemeinsamkeiten interessant, etwa, dass Moses auch im Islam eine wichtige Rolle spielt, das Verbot von Schweinefleisch und die Knabenbeschneidung. Die Differenzen sehen wir als Bereicherung, sind uns aber bewusst, dass es Menschen aller Religionen gibt, die die absolute Wahrheit für sich beanspruchen und deshalb die anderen Religionen ablehnen oder sogar bekämpfen.
Alle drei Religionen sehen Abraham als ihren Stammvater an und alle drei glauben an die Abstammung von Adam und Eva.
Wo sind die Gemeinsamkeiten von Islam, Christentum und Judentum?
Alle drei Religionen sind in derselben Region entstanden. Und Hebräisch, Arabisch und Aramäisch sind semitische Sprachen. Von Beginn an bestanden kulturelle Gemeinsamkeiten. Aber auch theologisch gibt es spannende Themen, alle drei Religionen sehen Abraham als ihren Stammvater an und alle drei glauben an die Abstammung von Adam und Eva. Dahinter steckt eine grosse Symbolkraft, auf die wir uns alle berufen. Das schweisst uns im Grunde zusammen. Leider wird heute insbesondere der Islam von extremistischen Strömungen und Terror überschattet, und Religionen werden immer wieder für Ideologien missbraucht.
Aber die Grundidee eines guten und barmherzigen Gottes besteht als Kernbotschaft in allen drei Religionen. Interreligiöser Dialog: Warum braucht es diesen, warum ist er so wichtig?
Jede Form von Dialog ist wichtig für eine intakte Gesellschaft, denn er ermöglicht, Probleme zu lösen. Es gibt keine Alternative zum Dialog. Wenn es um die Corona-Pandemie oder die Erderwärmung geht, müssen sich auch Religionsgemeinschaften um Lösungen bemühen. Der kürzlich verstorbene Schweizer Theologe Hans Küng hat gesagt, dass es keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden gebe. Auch viele islamische Mystiker waren dieser Überzeugung, etwa Hazrat Inayat Khan (1882–1927), Gründer des Internationalen Sufi-Ordens und der Internationalen Sufi-Bewegung. Er hat eine Einheit der religiösen Ideale ausgearbeitet.
Was vermag ein solcher Dialog zu leisten in einer Zeit, in der im Westen die Säkularisierung immer weiter fortschreitet?
Eine berechtigte Frage. Übrigens gibt es auch in der islamischen Welt eine starke Säkularisierungsbewegung. Viele denken, dass der Islam boomt, die Realität ist aber, dass viele Moscheen immer leerer werden. Muslime kamen oft als Migrantinnen und Migranten nach Europa und organisierten sich aus einem Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit in religiösen Gemeinschaften. Bei deren Kindern und Enkeln hat sich das aber geändert, und so beobachten wir in fast allen Ländern, abgesehen vom Freitagsgebet, leere Moscheen, auch wenn daneben ein Anstieg von islamistischen Gruppen zu sehen ist. Aber die grosse Mehrheit lebt zunehmend säkular. Diese «Kulturmuslime» beten vielleicht nicht mehr, gehen aber doch hin und wieder in eine Moschee, ähnlich wie viele Christinnen und Christen hin und wieder in eine Kirche gehen. Diese säkularen Menschen haben aber seelsorgerische oder ethische Fragen – diese sind mehr denn je legitim.
Die Annahme der Burka-Initiative hat gezeigt, wie gross die Ängste vor «dem Islam» sind. Sie beschreiben einen friedliebenden und spirituellen Islam, wie geht das zusammen mit dem Islamismus?
Es ist klar: Die Wissenschaft darf die Augen vor unbequemen Tatsachen nicht verschliessen. Religionen und ihre Schriften bieten immer auch die Möglichkeit, sie zu instrumentalisieren, Inhalte aus dem Kontext zu reissen und zu missbrauchen. Leider sind solche Strömungen derzeit verstärkt aus dem islamischen Kontext zu beobachten. Da müssen auch wir Theologinnen und Theologen Stellung beziehen und versuchen, solchen Gruppierungen die Deutungshoheit wieder zu entreissen. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Musliminnen und Muslime auch Opfer sind, man denke etwa an die Unterdrückung der Uiguren in China oder an die Verfolgung der Rohingya in Myanmar. Es gibt gegenüber dem Islam auch Vorurteile, etwa dass diese Religion nicht vernunftorientiert sei. Das ist ein grosser Irrtum, Vernunft war im Islam von Beginn an sehr zentral und es gab viele Gelehrte, die das verkörperten. Man denke nur an den Begriff Algorithmus, der heute in aller Munde ist. Es ist der Name eines muslimischen Gelehrten aus dem Mittelalter.
Das Zentrum «Theologie und Philosophie der Religionen» wurde kürzlich gegründet – ein weiterer Schritt in Richtung Verstärkung der Forschung zum interreligiösen Dialog an der Universität Luzern, mit Islamischer Theologie als Teil davon. Welche Bedeutung hat das für Sie und Ihre Arbeit?
Jede Wissenschaft ist nur dann gut, wenn sie sich auch vernetzt. Dass wir das nun in Luzern so umfassend tun können, freut mich sehr und hat auch gewissermassen Pioniercharakter in der Schweiz. Wir möchten ein gemeinsames Gedächtnis schaffen. Es ist zentral, dass wir uns an unsere Geschichte erinnern, um aus ihr lernen zu können. Dieses Gedächtnis, so scheint mir, ist ausserhalb der Wissenschaft weitgehend verloren gegangen. Zu sehen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen nicht nur bekriegt, sondern auch ausgetauscht haben, etwa in Cordoba, Kairo oder Bagdad, das ist vielen nicht bewusst. In der Forschung gibt es, was den interreligiösen Austausch betrifft, grosse Lücken. Da werden wir teilweise wie Detektive arbeiten und dadurch die vielschichtige Beziehungsgeschichte, die dynamischen Wechselwirkungen, die Kontinuitäten und Brüche aufdecken und darauf hinweisen, dass es stets auch sich überlappende religiöse Milieus und sogar gemeinsame Repertoires religiöser Theorie und Praxis gab.
Das Interview wurde im Rahmen des Jahresberichts 2020 der Universität Luzern von Robert Bossart, freischaffender Journalist, geführt.
Früherer «Gesehen»-Beitrag von Professor Toprakyaran im Magazin