Glaube manifestiert sich auch in Musik – darüber herrscht Konsens. Der Aspekt des sinnlichen Erkennens wird in der Theologie allerdings nach wie vor stiefmütterlich behandelt. Forschung und eine Tagung an der Theologischen Fakultät schaffen Abhilfe.
Wolfgang Müller*, wie ist das Verhältnis von Musik und Theologie?
Wolfgang Müller: Der in diesem Jahr verstorbene Musiker Dieter Schnebel sprach von einem Verhältnis zweier schwieriger Partner. Schwierig, weil Musik und Sprache sehr «selbstbewusst» seien: Sowohl Sprache als auch Musik ringen jeweils um den besten Ausdruck unserer Gefühle, Stimmungen usw. Richard Strauss hat das in seiner 1942 uraufgeführten Oper «Capriccio» sehr schön zum Ausdruck gebracht: In dieser werben der Dichter Olivier und der Musiker Flamand um die Gunst der Gräfin Madeleine. Die Oper lebt von der Spannung, welche der beiden Künste – Dichtung oder Musik – bei der Gräfin mehr Gehör finden wird.
Warum hat Musik in der religiösen Praxis, bspw. in Gottesdiensten, einen derart hohen Stellenwert (und diesen über die Jahrhunderte behalten)? Woher rührt diese «Kompatibilität»?
Vom spätantiken Theologen und Philosophen Augustinus stammt der Satz «Wer singt, betet doppelt». Während der begriffliche Diskurs ganz auf das Wort bezogen ist, drückt die Musik mehr aus: Diese ist sinnlicher, ganzheitlicher als der trockene Diskurs. In der Praxis jedes Kultes, jeder Kultur ist deswegen das musikalische Element vorhanden. Das Alte Testament kennt bereits die Musik als Element der Religion. Denken Sie nur an die Psalmen (und deren Vertonungen bis in die Neuzeit, zum Beispiel Psalmenvertonungen von Leonard Bernstein (1918–1990)). Das Neue Testament kennt den Gesang bei der Liturgie, Hymnen artikulieren bereits in der Frühzeit der Kirche Glaubensbekenntnisse.
Ist einzig die Stimme als Ausdruck des Glaubens relevant? Oder kann auch der instrumentelle Part oder sogar reine Instrumentalmusik Göttliches transportieren bzw. fühlbar machen?
Betrachtet man den Anfang der Musikpraxis in der jungen Kirche, dann sollte die Musik nur als Begleitung fungieren. Bereits mit dem Aufkommen der Polyphonie – also der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Stimmen eines Stückes – im Spätmittelalter wird das Verhältnis von Gesang und Musik interessanter. Durch die Jahrhunderte hindurch können wir in allen christlichen Konfessionen dieses Spiel sehen: Musik versteht sich nicht nur als Begleitung zu biblischen, liturgischen oder religiösen Texten. Im Gegenzug setzte Luther das musikalische Element ganz bewusst zur Verbreitung seiner Theologie ein; für den Gemeindegesang kann das Weihnachtslied «Vom Himmel hoch, da komm ich her» stehen, für die Theologie Luthers zum Beispiel die Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Zwingli dagegen verbannte die Musik aus dem Gottesdienst (dafür entstand die Praxis der Hausmusik!).
Luther setzte das musikalische Element ganz bewusst zur Verbreitung seiner Theologie ein.
Und wie ist die Situation heute?
Es ist inzwischen gemeinhin anerkannt, dass die Musik als autonome Kunstgattung den Glauben musikalisch artikulieren kann. Das gilt für alle Musikrichtungen. Komponierte Olivier Messiaen (1908–1992) bewusst in der Tradition der Katholischen Kirche, holte John Cage (1912–1992) seine Inspiration beim Buddhismus. Der Komponist Hans Zender (*1936) nennt das Musikschaffen «Mit Sinnen denken».
Spiegelt sich diese Erkenntnis auch in der Forschung gebührend wider?
Leider wurde Musik als Element der Glaubensartikulation in seiner Eigenständigkeit meines Erachtens bis heute viel zu wenig beachtet. In der Regel beschäftigt man sich mit Musik im kultischen und liturgischen Kontext nur hinsichtlich pragmatischer Fragen (Welche Musik passt zu welcher Liturgie: Gemeindegesang, Hochzeit, Beerdigung, Kindergottesdienste usw.). Seit dem 19. Jahrhundert wird in der theologischen Reflexion auf die ästhetische Wahrnehmung geachtet. Der Glaube sagt sich eben auch sinnlich aus. Eine theologische Ästhetik war bis anhin jedoch zu wortlastig. Man kennt in der Reflexion Bereiche wie «Literatur und Theologie» oder «Bildende Kunst und Theologie». Die Musik wird dabei rudimentär behandelt.
Diesbezüglich das Fachwissen bündeln wird die kommende Tagung – inklusive Konzerten – zum Musikschaffen in den drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam an (siehe Box unten). Wie sieht es diesbezüglich beim Christentum mit ihrer katholischen und der protestantischen Linie aus?
Wie oben angetönt, brauchte in der katholischen Praxis die Anerkennung der Musik als autonomes Element für die Artikulation des Glaubens etwas länger als in der reformierten. Eine grundsätzliche Reflexion über die Bedeutung der Musik für die Theologie steht noch aus. Interessant im konfessionellen Kontext ist der Sachverhalt, dass Komponistinnen und Komponisten zum einen Musik machen, zum anderen in einer konfessionellen Tradition stehen. So sind Arvo Pärt (*1935) und Sofia Gubaidulina (*1931) in der orthodoxen, Willy Burkhard (1900–1955) in der reformierten und Paul Huber (1918–2001) in der katholischen Tradition verankert. Vermehrt gehen Komponistinnen respektive Komponisten heute allerdings von einem allgemeinen Verständnis von Spiritualität in ihrem Schaffen aus. Hier sind zum Beispiel Karlheinz Stockhausen (1928–2007) oder Galina Ustwolskaja (1919–2006) zu nennen.
«Im Judentum und im Islam herrscht ein striktes Bilderverbot, Musik aber ist im Kult zugelassen.»
Und wie ist Praxis im Judentum und im Islam? Wo gibt es Gemeinsamkeiten und wo manifestieren sich Differenzen?
Hier wird es spannend, da es sich ja allesamt um «Wortreligionen» handelt! Während das Christentum neben der Musik trotzdem auch (s)einen Bildreichtum in der Darstellung seiner Glaubensaussagen kennt, herrscht im Judentum und im Islam ein striktes Bilderverbot, Musik aber ist im Kult zugelassen. Der Koran wird offiziell nicht gelesen, sondern in einer Art Sprechgesang gesungen («kantillieren»). Das Judentum kennt in seinem Musikschaffen im 18./19. Jahrhundert auch Einflüsse der europäischen Musiktradition. Die synagogale Musik hat eine grosse Traditionsgeschichte.
Hinsichtlich Musik verorten Sie auch Potenzial für den interreligiösen Dialog.
Ja, auf jeden Fall. Diesbezüglich soll an einen Spruch der Hadith-Sammlungen erinnert sein: «Gott ist schön, er liebt das Schöne.» Darauf Bezug nehmend, schrieb der Orientalist Navid Kermani zum ästhetischen Erleben des Koran das interessante Buch «Gott ist schön» (1999). In den vorliegenden Ansätzen interreligiöser Theologie wird meistens nicht über die Relevanz der Musik, die ja in vielerlei Hinsicht keine Grenzen kennt, nachgedacht. Entsprechend ist es an der Zeit, die Rolle der Musik in den drei monotheistischen Religionen auf erkenntnistheoretischer wie musikalischer und musiktheoretischer Ebene zu reflektieren. Die Theologische Fakultät in der Musikstadt Luzern ist dafür ein geeigneter Ort des Dialogs.
* Wolfgang Müller ist Professor für Dogmatik und Leiter des Ökumenischen Instituts.
Tagung mit Konzerten
Die öffentlich und kostenlos besuchbare Tagung «Das Musikschaffen in den drei monotheistischen Religionen: Judentum, Christentum, Islam» findet vom 8. bis 10. November an der Universität Luzern und im Stift Beromünster statt. Einen integralen Bestandteil des dreitägigen Anlasses bilden Konzerte in der Jesuitenkirche und im Marianischen Saal in Luzern und Stiftskirche St. Michael in Beromünster. Veranstalterin sind das Ökumenische Institut und die Professur für Dogmatik der Theologischen Fakultät. Tagungsflyer (pdf)