Bernhard Rütsche, Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, fragt – Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie, und Alexander Trechsel, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Kommunikation, antworten.

Bild: istock.com/Sergey Tinyakov
Bild: istock.com/Sergey Tinyakov

Es stimmt zwar, dass es im 20. Jahrhundert zu einer kontinuierlichen Erosion der Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz gekommen ist. Wählten 1919 noch über 80 Prozent der Stimmberechtigten das eidgenössische Parlament, so sank die Wahlbeteiligung bis 1995 um die Hälfte. Aber diese Erosion wurde seither gestoppt, und es ist sogar zu einer leichten Erholung gekommen.

Auch wenn die Stimmbeteiligung im internationalen Vergleich tief bleibt, gilt es zu bemerken, dass die Stimmberechtigten in der Schweiz fast konstant an die Urne gerufen werden: Auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene gibt es regelmässig Wahlen und, mehrmals pro Jahr, Volksabstimmungen zu Sachgeschäften. Föderalismus und direkte Demokratie multiplizieren also die politischen Beteiligungsmöglichkeiten um ein Vielfaches. Darüber hinaus hat die di- rekte Demokratie einen klaren Einfluss auf die Wichtigkeit der Wahlen: Diese sind in der Schweiz allgemein weniger bedeutsam. Auf der einen Seite kommt es nach Wahlen aufgrund der Konkordanz kaum zu politischen Veränderungen in der Regierungszusammensetzung.

Grad der Betroffenheit entscheidend

Auf der anderen Seite hat das Volk bei wichtigen Politikentscheiden das letzte Wort. Bei solchen Vorlagen – wie beim EWR-Entscheid, bei der Abstimmung über die Volksinitiative «Schweiz ohne Armee» oder bei der Durchsetzungsinitiative – kann die Stimmbeteiligung auch schon einmal auf zwei Drittel der Stimmberechtigten steigen. Das Gleiche gilt nicht nur auf Bundesebene, sondern ebenso für die in den Kantonen und Gemeinden intensiv gelebte direkte Demokratie.

Joachim Blatter und Alexander Trechsel
Die Politikwissenschafts-Professoren Joachim Blatter und Alexander Trechsel

Studien haben gezeigt, dass sich die Stimmberechtigten sehr selektiv  an  Urnengängen beteiligen – sie tun es vor allem dann, wenn sie sich von der Vorlage betroffen fühlen. Bürgerinnen und Bürger, die sich für das Thema interessieren, informieren sich und sind in einem erstaunlichen Masse fähig, ihren Entscheid an der Urne mit Argumenten zu begründen. Die unregelmässige Stimm- und geringe Wahlbeteiligung sollte also nicht als Zeichen einer generellen Politikverdrossenheit bzw. Unzufriedenheit mit der Demokratie missverstanden werden. Nur ungefähr 20 Prozent der Stimmberechtigten nehmen an keiner Abstimmung teil, der deutlich grösste Teil beteiligt sich gelegentlich. Die Schweizerinnen und Schweizer sind im internationalen Vergleich sehr zufrieden mit ihrer Demokratie.

Allerdings hat die tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung durchaus einen Preis, denn sie geht einher mit einer Ungleichbeteiligung. Die unteren Einkommens- und Bildungsschichten beteiligen sich nicht nur weniger an Abstimmungen (insbesondere, wenn es um komplexere Sachverhalte geht), sondern auch an Wahlen, sodass sie im Parlament schlechter repräsentiert sind als die Mittel- und Oberschichten. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass jede vierte Einwohnerin respektive jeder vierte Einwohner der Schweiz gar kein Stimm- bzw. Wahlrecht besitzt. Dies, da die Hürden zur Einbürgerung sehr hoch sind und nur sehr wenige Kantone und Gemeinden das Ausländerstimmrecht eingeführt haben.

Bernhard Rütsche
Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie
unilu.ch/bernhard-ruetsche

Joachim Blatter
Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie
unilu.ch/joachim-blatter

Alexander Trechsel
Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Kommunikation
unilu.ch/alexander-trechsel