Nichts bezeugt die Authentizität meines Selbst so sehr, wie wenn ich mich schäme. Dennoch setzt der spätmoderne Mensch in seinem Streben nach Individualität alles daran, dem Schamgefühl tunlichst aus dem Weg zu gehen.
Selbstoptimierung ist im Trend. Kaum etwas prägt den Menschen des 21. Jahrhunderts so sehr, wie das Streben danach, das eigene Leben zu verbessern. Ob bei der Arbeit, beim Sport, der Ernährung oder beim Schlaf – nahezu alle Lebensbereiche sind mittlerweile vom Konkurrenzprinzip einer neoliberalen Marktideologie durchdrungen. Analog dem ökonomischen Dürsten nach Erfolg und Gewinnmaximierung entwirft sich der Mensch von heute als unternehmerisches Selbst.
Sei dein besseres Selbst
Die Vorstellung von Individualität, die dabei zum Tragen kommt, hat sich grundlegend geändert. Die Rufe nach einem selbstbestimmten Leben haben sich seit dem Eintritt in die globalisierte Welt der Spätmoderne in das tosende Ächzen des sich selbst optimierenden Individuums gewandelt. Stand einst die Suche nach dem wahren, authentischen Ich im Fokus, so geht es heute um das Training des funktionalen Ichs, das seinen Subjektivierungsansporn daraus zieht, anderen nicht unterlegen zu sein. Die Devise lautet nicht: «Sei du selbst», sondern: «Sei dein besseres Selbst».
Individualismus wurde vom Leistungsgedanken praktisch komplett vereinnahmt. Das spätmoderne Subjekt, längst zum Humankapitalisten in eigener Sache geworden, will das Beste aus sich selbst herausholen, um den eigenen Marktwert gegenüber der Konkurrenz zu steigern. Selbstverwirklichung wurde zu jener zwingenden Freiheit, sich um die Verwirklichung seines optimalen Selbst zu bemühen.
Makel in der Leistungsgesellschaft
Selbstbestimmung, Freiheit, Erfolg und Einzigartigkeit – die zentralen Normen und Ideale spätmoderner Gesellschaften haben indes eines gemein: Sie vertragen sich nicht mit Schamgefühlen. Denn Scham steht für Schwäche und persönliche Unzulänglichkeit. Das Schamgefühl zersetzt das normative Allzeithoch einer souveränen, marktgängigen Individualität. Scham selbst wird zu einem Makel, den sich innerhalb einer individualistischen Leistungsgesellschaft schlichtweg niemand leisten kann.
Die Devise lautet nicht: «Sei du selbst», sondern: «Sei dein besseres Selbst».
Denn nichts bezeugt gescheiterte Individualisierung mehr als die verräterische Schamesröte in meinem Gesicht. Wo überlegene Individualität zur Maxime wird, hat der sich Schämende versagt. Scham bezeugt Unterlegenheit. Und Unterlegenheit ist das Symbol einer defizitären Individualität. Wer sich schämt, hat nämlich nicht nur gegen eine spezifische Norm verstossen, sondern er verstösst damit zugleich gegen die Norm, sich nicht zu schämen. Die Scham selbst wird mit Scham sanktioniert.
Nur vordergründig absent
Der ohnehin bereits vorhandene Impuls, sein akutes Schamgefühl zu verbergen, hat sich derart verstärkt, dass man heute den Eindruck gewinnen könnte, in einer schamlosen Zeit zu leben. In Wirklichkeit aber ist das Gegenteil der Fall. Schamgefühle haben an Bedeutung gewonnen, sie sind schlichtweg omnipräsent, gerade weil sie tunlichst vermieden werden sollen.
Das soziale Leben ist von einer unsichtbaren Schamangst durchzogen, die ihre wachsende Potenz daraus zieht, dass das Zeigen akuter Schamgefühle zunehmend mit einem Tabu belegt wird. Das öffentliche Paradieren von Schamlosigkeit ist in dieser Hinsicht nichts anderes als der Versuch, Scham oder Schamangst performativ hinter einer Maske zu verschleiern. Steht Scham für Unterlegenheit, so drückt die Maske der Schamlosigkeit nämlich Überlegenheit aus. Das Streben nach dem besseren Selbst ist in diesem Sinne das Vehikel des spätmodernen Subjekts in die demonstrierte, weil überlegene Schamlosigkeit.
Nicht enden wollende Flucht
Beschämbar zu sein, ist das letzte No-Go einer Gesellschaft des Anything Goes. Das spätmoderne Subjekt rennt nicht unrealistischen Grandiositätsfantasien hinterher. Es versucht vielmehr, vor der eigenen Mangelexistenz zu fliehen. Einen sicheren Hafen kennt diese Flucht jedoch nicht. Deshalb legt sich Schamangst wie ein dünner Film über die Gesellschaft der Spätmoderne, in der das Individuum den Wert seiner Einzigartigkeit in ständiger Gefahr wähnt. Dabei ist es gerade das Schamgefühl, in dem das Individuum sich selbst begegnet. Denn Scham ist letztlich vor allem eines: Entschleierung.
Ausgezeichnete Masterarbeit
Der Haupttext basiert thematisch auf der Masterarbeit «Das beschämte Selbst. Versteckte Scham und Selbstoptimierung in der Spätmoderne». Für diese hat Philipp Bucher Mitte September den Preis für die beste im Frühjahrssemester 2018 an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät verfasste Masterarbeit erhalten. Bucher «macht die widersprüchliche, psychische Verfasstheit des beschämten Selbst von heute eindrücklich anschaulich», führte Philosophie-SNF-Förderungsprofessorin Christine Abbt in ihrer an der Diplomfeier gehaltenen Laudatio aus. Zora Matter, Studentin der Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften, wurde für «So schwitzt es sich richtig. Eine Ethnographie des Saunabesuchs» mit dem Preis für die beste Bachelorarbeit gewürdigt. (red.)