Zuhören, Vertrauen schaffen und miteinander auf Augenhöhe arbeiten: Dies sind die Grundpfeiler für eine erfolgreiche interreligiöse Feier, wie die Doktorarbeit von Ann-Katrin Gässlein zeigt.

Dr. Ann-Katrin Gässlein, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft; Theologin in der Citypastoral bei der Katholischen Kirche im Lebensraum St. Gallen

Ann-Katrin Gässlein, was ist unter einer interreligiösen Feier zu verstehen?

Ann-Katrin Gässlein: Wenn dabei beispielsweise jüdische, muslimische oder auch hinduistische Gläubige aktiv mitwirken. Das heisst, es wird nicht einfach durch eine christliche Vertreterin, einen christlichen Vertreter eine Koranlesung vorgenommen oder ein jüdisches Lied angestimmt. Das «Interreligiöse» an einer Feier habe ich durch die hauptverantwortlichen Akteurinnen und Akteure definiert, die sich in einer bestimmten Tradition verorten und aus dieser dann Texte, Gebete, Lieder oder Rituale in die Feier einspeisen. Ziel meiner Dissertation war es, zu erforschen, wie Christinnen und Christen religionsverbindende Feiern initiieren und gestalten. Diese Ergebnisse wollte ich für den liturgiewissenschaftlichen Diskurs fruchtbar machen.

Wie kann man sich solche Feiern konkret vorstellen?

Weil religionsverbindende Feiern nicht kirchenrechtlich geordnet sind, kann hier aus dem ganzen Reichtum der verschiedenen Traditionen geschöpft werden. Christinnen und Christen werden schnell feststellen, dass sich biblische Texte nur begrenzt eignen. In Frage kommen vor allem sogenannte «Klassiker» aus den Evangelien oder Psalmen mit ihrer dichten und persönlichen Gottesbeziehung. Es lohnt sich, nachzudenken, wie diese Texte eingeleitet werden sollen und wie viel bzw. wie wenig Kontext notwendig ist. In katholischen Gottesdiensten reicht es aus, «Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas» anzukündigen – in einer interreligiösen Feier braucht es dazu sicher Ergänzungen, aber keine Bibelkatechese.

Einige nichtchristliche Religionen legen den Fokus weniger auf das gesprochene Wort …

Ja, exakt, und auch nicht alle haben «Heilige Schriften», aus denen vorgelesen wird. Sie pflegen eher rezitativen Gesang, der für Uneingeweihte fremd und monoton erscheinen mag. Während Texte der Bahá’í-Baha’i-Religion heute durchweg ins Englische und Deutsche übersetzt und zugänglich sind und aus dem Koran und der Sunna ebenfalls Übersetzungen vorliegen, sieht dies für Gedichte und Lieder aus dem Alevitentum, dem Sikhismus oder auch dem Hinduismus ausserhalb der Bhagavadgita anders aus. Viele Mitwirkende haben keinen akademischen Hintergrund und kaum Zugang zu Fachliteratur. Für Übersetzungen und Kompilationen geeigneter Texte können interreligiöse Gruppen und Fachstellen Unterstützung leisten. Im Grundsatz sollten aber alle Mitwirkenden für die eigenen Beiträge inklusive möglicher Übersetzungen die Verantwortung tragen. Daneben gibt es noch eine Reihe anderer wichtiger Aspekte, zum Beispiel die Frage nach dem geeigneten Ort, nach Musik oder allenfalls gemeinsamen Liedern, nach einem guten Abschluss und weiteren begleitenden diakonischen Projekten, über die eigentliche Feier hinaus.

Der Dialog und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind unverzichtbar.
Ann-Katrin Gässlein

Sie besuchten und analysierten zahlreiche interreligiöse Feiern und führten unzählige Interviews durch. Welche Feststellungen machten Sie?

Für das Gelingen einer interreligiösen Feier bedarf es im Vorfeld einer intensiven Beziehungsarbeit! Man kann nicht einfach Vertreterinnen und Vertreter anderer Religionen ein laden und davon ausgehen, dass diese top vorbereitet erscheinen und alles so leisten, wie man sich das im kirchlichen Umfeld vielleicht vorstellt. Das Vertrauen der Partnerin, des Partners muss zuerst gewonnen werden, und es gilt, die jeweiligen Möglichkeiten auszuloten und mögliche Ängste zu überwinden. Der Dialog und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind unverzichtbar. Dass es bei interreligiösen Feiern nicht um Missionierung geht, ist eigentlich allen klar. Aber es gibt oft verschiedene unterschwellige Befürchtungen, die sich in einer freundschaftlichen Atmosphäre besser artikulieren und bewältigen lassen. Auch Christinnen und Christen haben eine Agenda, die ihnen vielleicht nicht immer bewusst ist: mediale Aufmerksamkeit, die Chance, kirchenferne Menschen zu erreichen, ein Ort, um eine liberale oder universelle Theologie zu verkünden – und nicht immer ausschliesslich Interesse an anderen Religionen. Die konkrete Vorbereitung und Durchführung einer Feier ist dann für alle Beteiligten ein wichtiges Lernfeld.

Lohnt sich denn all dieser Aufwand?

Obwohl interreligiöse Feiern nicht überdurchschnittlich stark besucht werden als ein «herkömmlicher» Gottesdienst, wird die damit verbundene Arbeit bzw. die interreligiöse Feier von den beteiligten Akteurinnen und Akteuren äusserst geschätzt, und ich durfte eine hohe Zufriedenheit wahrnehmen: zum einen bei den Christinnen und Christen, die mit religiös hochmotivierten Menschen zu tun haben, die sie mit vielen neuen Sichtweisen bereichern – zum anderen bei den Angehörigen nichtchristlicher Religionen. Viele haben mir berichtet, dass ihre Erfahrungen in der Schweiz eigene Vorurteile aus den Heimatländern korrigiert haben, dass sie zu einem positiven Bild des Christentums gelangt seien und in ihrer eigenen Religion ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hätten. Kritische Stimmen – das muss auch gesagt werden – sind von christlichen Migrantenkirchen zu hören, die Angst haben, ihre Identität zu verlieren und dem Sog der Säkularisierung zu erliegen. Sie wünschen sich mehr Solidarität vonseiten der Schweizer Mehrheitskirchen und begegnen interreligiösen Projekten oft skeptisch.

Welche Chancen bieten religionsverbindende Feiern?

Wenn durch respektvolles Zuhören Neugier auf andere Glaubenswelten geweckt wird, kann es zu einer Vertiefung der persönlichen Spiritualität kommen. Und noch wichtiger: Kulturelle Unterschiede können besser verstanden werden, was ein wertschätzendes Miteinander begünstigt. Im besten Fall führen interreligiöse Feiern zudem erneut vor Augen, was in der eigenen Tradition wertvoll und liebenswert ist. Ich sehe hier viele neue Wege für die kirchliche, insbesondere auch die liturgische Arbeit – sofern man sich auf die soziologischen Voraussetzungen einlässt und «interreligiös» auch als «inner-religiös divers» versteht.

Wenn durch respektvolles Zuhören Neugier auf andere Glaubenswelten geweckt wird, kann es zu einer Vertiefung der persönlichen Spiritualität kommen.
Ann-Katrin Gässlein

Welches Fazit und welche Learnings nehmen Sie für sich persönlich mit?

Ich hatte mit meiner Forschung glücklicherweise 2019 begonnen, sodass die COVID-19-Pandemie meine Arbeit nicht schwerwiegend beeinträchtigte. Zudem konnte ich Feiern besuchen, die digitale Wege beschritten und solche, welche die akute Krisensituation thematisierten. Letztlich hatte ich zu viel Material – ein klassischer «Fehler» in der empirischen Forschung. All die Feierprotokolle und Interviews zu sichten und auszuwerten, hat unzählige Stunden gekostet. Künftig werde ich sicherlich das Motto «Weniger ist mehr» im Hinterkopf behalten!

Und in Bezug auf interreligiöse Feiern?

Obwohl gerade die letzte Zeit des Schreibens meiner Dissertation sehr viel Energie und Substanz abverlangte, bin ich doch unglaublich dankbar für die vielen wertvollen neuen Kontakte, die ich gewinnen konnte. Und ich musste einmal mehr feststellen, dass ich irgendwie ein «Freak» bin, ein Liturgie-Fan im weitesten Sinn. So spannend und bereichernd interreligiöse Feiern auch sind: Die «Originale» – in ihrer Muttersprache, mit ihren tradierten Texten und Gesängen, ihren für westlich sozialisierte Menschen oft fremden Ritualen – finde ich wirklich fantastisch! Daher sehe ich religionsverbindende Feiern auch als eine Art «Schaufenster»; als eines, in dem sich die einzelnen Religionen von ihrer besten Seite zeigen können, Lust auf mehr wecken und so das respektvolle Miteinander fördern und stärken.
 

Die von Professorin Birgit Jeggle-Merz betreute Dissertation wurde unter dem Titel «Religionsverbindende Feiern in der Schweiz. Religionssoziologische Analyse und liturgiewissenschaftliche Kommentierung (Herder, Freiburg i. Br. 2024) veröffentlicht. Newsmeldung
 

Das Interview ist im Jahresbericht 2023 der Universität Luzern erschienen.