Der strafrechtliche Umgang mit medizinisch nicht notwendiger männlicher Genitalbeschneidung im Kindesalter ist umstritten. Ein Strafrechtsprofessor, ein Judaist und ein Professor für Islamische Theologie erklären, warum das so ist.

Für die Beschneidung eines Knaben bereitgelegte medizinische Instrumente. (Bild: ©istock.com/tzahiV)

Andreas Eicker, Sie sind Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht und haben im April eine interdisziplinäre Tagung zum Thema Knabenbeschneidung durchgeführt (siehe Box unten). Wie sieht die diesbezügliche Rechtslage in der Schweiz aus?

Andreas Eicker: Die Rechtslage ist nicht eindeutig geklärt. Zwar gibt es in der Schweiz einen Tatbestand, der die weibliche Genitalbeschneidung unter Strafe stellt – der Gesetzgeber hat jedoch darauf verzichtet, auch die Beschneidung von Jungen zu erwähnen.

Und das bedeutet?

Daraus kann man einerseits den Schluss ziehen, dass die sogenannte Knabenbeschneidung nicht strafbar sei. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Beschneidung vom Tatbestand der einfachen Körperverletzung erfasst wird und unter welchen Voraussetzungen sie gegebenenfalls als gerechtfertigt erscheint. Denn Fakt ist: Durch die Beschneidung wird – wie bei anderen medizinischen Eingriffen auch – tatbestandlich eine Gesundheitsschädigung im Sinne eines behandlungs- und heilungsbedürftigen Zustands hervorgerufen.

Hier treffen offensichtlich ganz unterschiedliche Vorstellungen aufeinander.

In der Tat. Bei dem Thema treffen nicht nur verschiedene juristische, sondern auch medizinische und theologische Perspektiven aufeinander. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Beschneidung ein in unserer Gesellschaft sozialübliches Verhalten ist, das deshalb nicht als strafrechtlich relevant betrachtet werden kann. Fraglich ist auch, ob und inwieweit die verfassungsrechtlich garantierte Religionsausübungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden darf – denn die körperliche Unversehrtheit von Kindern steht nach der Verfassung unter ganz besonderem Schutz. Eine rechtfertigende Einwilligung der Eltern steht nach dem Zivilrecht unter dem Vorbehalt der Kindeswohlbeurteilung. Diese lässt es grundsätzlich zu, auch medizinische, religiöse und kulturelle sowie erzieherische Aspekte zu berücksichtigen.

Was meinen Sie damit konkret?

Ein Beispiel: Entspricht es mehr dem Kindeswohl, den Jungen dank der Beschneidung in eine religiöse und/oder kulturelle Gemeinschaft zu integrieren und damit vor Ausgrenzung und Stigmatisierung zu schützen? Oder müsste man dem Jungen die Freiheit belassen, in ein wenig fortgeschrittenem Alter selbst zu entscheiden, ob er dieser religiösen oder kulturellen Gemeinschaft überhaupt angehören will – und falls ja, ob er dies auch durch die Beschneidung irreversibel zum Ausdruck bringen möchte?

Ist ein Verbot der medizinisch nicht indizierten Zirkumzision an urteilsunfähigen Jungen realistisch?

Ich kann mir das nicht vorstellen. Es scheint klar, dass die Strafverfolgung im Falle der Knabenbeschneidung politisch nicht gewollt ist und momentan auch nicht verfolgt wird. Der Einsatz von Strafrecht gilt als Ultima Ratio und muss verhältnismässig sein. Gleichwohl ist es rechtlich nicht einfach zu begründen, warum die Knabenbeschneidung nicht vom Tatbestand der Körperverletzung erfasst sein soll. Dies hat zur Folge, dass bei einer weiterhin fehlenden rechtlich normierten Einwilligungslösung, die zugleich dem Kindeswohl Rechnung trägt, die Diskussion wohl weiter anhalten wird.

Eine Gesellschaft muss fähig sein, Andersdenkende voll zu akzeptieren.
David Bollag
Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung und Rabbiner

David Bollag, Sie sind Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung und Rabbiner. Welche Bedeutung hat die Knabenbeschneidung im heutigen Judentum?

David Bollag: Was religiöse Vorschriften und Bräuche angeht, gab es im Judentum im Laufe der Zeit viele Veränderungen. Bei der «Brit Mila», wie die Beschneidung im Judentum genannt wird, sieht es jedoch anders aus: Diese Vorschrift ist im Judentum nach wie vor enorm verbreitet. Und das auch in jüdischen Kreisen, in denen andere Normen – zum Beispiel die Speisegesetze – nicht mehr eingehalten werden. Durch die Brit Mila wird die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion und zum jüdischen Volk auf körperliche Art und Weise zum Ausdruck gebracht. Sie markiert den Eintritt in die jüdische Gemeinschaft und symbolisiert den Bund zwischen Gott und Abraham bzw. zwischen Gott und den Juden.

Welche Herausforderungen bringt das Ausüben religiöser Bräuche wie diesem im schweizerischen Rechtsraum mit?

Eine Gesellschaft muss fähig sein, Andersdenkende voll zu akzeptieren. Das fällt der Schweiz nicht immer leicht. Und das, obwohl die Religionsfreiheit in der Verfassung verankert ist. Das Schächtverbot, das Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, ist ein Beispiel dafür. Bei dieser Initiative wurde das Tierwohl in den Vordergrund gestellt, dabei ging es eigentlich um antisemitische Ressentiments. Für mich ist klar: Wer ein Problem mit der Beschneidung hat, hat ein Problem mit Religionsfreiheit.

Wie würde die jüdische Gemeinschaft auf ein Verbot der Knabenbeschneidung in der Schweiz reagieren?

Wenn die Beschneidung in einem Land verboten wird, werden die Jüdinnen und Juden auswandern – und zwar mit Stolz. Ich bin überzeugt, dass hinter solchen Kampagnen, die unter dem Deckmantel der Menschenrechte durchgeführt werden, sehr häufig Antisemitismus steckt. Der Versuch, die religiöse Zirkumzision zu verhindern, ist ein Versuch, die Juden und die Muslime aus Europa zu vertreiben.

Auch in mehrheitlich muslimischen Ländern hat die immer stärker werdende Säkularisierung und Diversifizierung Spuren hinterlassen.
Erdal Toprakyaran
Professor für Islamische Theologie

Erdal Toprakyaran, Sie sind Professor für Islamische Theologie. Wie wichtig ist die Knabenbeschneidung im Islam?

Erdal Toprakyaran: Die Knabenbeschneidung gilt im Islam nicht als ein göttliches Gebot, da sie im Koran nicht erwähnt wird. Jedoch soll der Prophet Muhammad selbst beschnitten gewesen sein und habe die Muslime ermuntert, die Knaben beschneiden zu lassen. Entsprechend ordnen die grossen Rechtsschulen die Knabenbeschneidung als wichtige prophetische Tradition ein. Deshalb lassen fast alle Muslime ihre Söhne in der Regel vor der Pubertät beschneiden. Die Beschneidung ist aber auch ein prägendes kulturelles Ritual, das oftmals zusammen mit der gesamten Verwandtschaft ausgiebig gefeiert wird.

Wird die Diskussion über die Notwendigkeit der Beschneidung in Ihrer Religion geführt?

Auch in mehrheitlich muslimischen Ländern hat die immer stärker werdende Säkularisierung und Diversifizierung Spuren hinterlassen. In säkularisierten Ländern wie Bosnien, Albanien oder der Türkei gibt es vermehrt Personen, welche die Knabenbeschneidung hinterfragen oder ablehnen. Dies führt aber in der Regel nicht dazu, dass die Beschneidung aufgegeben wird, sondern zu einer «moderneren» Gestaltung des Rituals. So werden etwa Knaben eher in einem späteren Alter beschnitten, damit sie besser mit den Schmerzen umgehen können, oder es finden vermehrt Beschneidungen unter Vollnarkose in Krankenhäusern statt.

Wie bringt der Islam seine religiösen Bräuche mit dem schweizerischen Rechtsraum in Einklang?

Es ist ein Fakt, dass es muslimische Traditionen gibt, die mit dem Schweizer Rechtssystem nicht in Einklang gebracht werden können. Etwa die Mehrfachehe oder die juristische Benachteiligung von Frauen beim Erbrecht. Jedoch sind solche vormodernen Traditionen auch unter Musliminnen und Muslimen sehr umstritten und werden in Ländern wie der Türkei oder Bosnien in der Regel nicht praktiziert. Für Muslime gilt ohnehin, dass sie sich an die Gesetze des Landes zu halten haben, in dem sie leben. Somit gilt das traditionell-islamische Recht nur so lange, wie es mit den geltenden Gesetzen des jeweiligen Landes in Einklang steht.

Hinweis: Das Interview erfolgte auf schriftlichem Weg. Die Fragen wurden den drei Forschern einzeln gestellt.

Familie im Blick

drei mit Gesichtchen angemalte emporgestreckte Finger, die einander glücklich «umarmen»
(Bild: ©pip/photocase.de)

Die im April durchgeführte Tagung zur Knabenbeschneidung, bei der auch die medizinische Sicht sowie diejenige eines Interessenvereins und von Direktbetroffenen berücksichtigt wurde, stellt ein Teilprojekt des universitären Forschungsschwerpunkts «Wandel der Familie im Kontext von Migration und Globalisierung» (FaMiGlia) dar. In diesem Rahmen untersuchen Forschende verschiedener Disziplinen und Fachrichtungen der Universität Luzern, wie sich familiäre Beziehungen und verwandtschaftliche Praktiken aufgrund von Globalisierung und Migration verändern und welche religiösen, gesellschaftlichen und rechtlichen Fragestellungen diese Entwicklungen aufwerfen. Untersuchungsgegenstand waren bisher beispielsweise neue familiäre Lebensformen wie jene von Ein-Eltern-Familien und gleichgeschlechtlichen Elternpaaren oder moderne Reproduktionstechnologien wie die Leihmutterschaft und die Eizellspende. Aber auch die Frage nach den historischen und theologischen Ursprüngen unserer vorherrschenden «Normal-» und Idealvorstellungen von Ehe und Familie wurde thematisiert.

«FaMiGlia» wurde 2016 lanciert und steht unter der Leitung der Professorinen Bettina Beer (Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät) und Martina Caroni (Rechtswissenschaftliche Fakultät). Bis zu ihrer Emeritierung Anfang dieses Jahres gehörte auch Professorin Stephanie Klein (Theologische Fakultät) zu den Leiterinnen. Ursprünglich auf fünf Jahre angelegt, wurde der Forschungsschwerpunkt per Beginn dieses Jahres um ein weiteres Jahr verlängert. Ziel von «FaMiGlia» ist es, den fakultätsübergreifenden Austausch anzuregen, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern, Studierende für zentrale Forschungsfragen zu interessieren und die Universität national und international weiter zu vernetzen. (Seline Rettenmund)

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