Für eine funktionierende Gesellschaft ist zwischenmenschliches Grundvertrauen wichtig. In seiner Dissertation hat Anastas Odermatt u.a. untersucht, wie Religion bzw. Religiosität das soziale Vertrauen in der Schweiz beeinflusst und somit positiv oder negativ auf die Gesellschaft wirkt.
Anastas Odermatt, kann man aufgrund Ihrer Untersuchung sagen, ob Religion einen eher brückenbildend oder konfliktfördernden Effekt auf die Gesellschaft hat?
Ich glaube, ich bin der Antwort zumindest etwas nähergekommen. Für meine Forschung habe ich Daten des KONID Survey 2019, einer repräsentativen Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung über soziale Identitäten und Religion, statistisch ausgewertet. Meine Untersuchung zeigt: Religion beziehungsweise Religiosität kann sowohl brückenbildend als auch konfliktfördernd wirken. Brückenbildend wirkt insbesondere die religiöse Praxis in Form von Gottesdiensten, Freitagsgebeten oder anderen religiösen oder spirituellen Feiern. Das liegt am Aufbau dieser Rituale und ihrer integrierenden Wirkung.
Können Sie hierzu ein Beispiel nennen?
Bei einem Gottesdienst etwa ist das Ritual selbst strukturiert und formell. Durch die Teilnahme entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit und gegenseitiger Solidarität. Im Anschluss treffen sich die Menschen dann beim Hinausgehen oder beim Apéro und reden miteinander. Angeregt von den im Gottesdienst hervorgerufenen Gefühlen und Einstellungen knüpfen sie neue Kontakte und pflegen Bekanntschaften. In diesem eher unstrukturierten und informellen Raum können sich Menschen gegenseitig für religiöses, aber auch nicht-religiöses freiwilliges Engagement anfragen und motivieren. Auf der Strasse oder in vielen anderen sozialen Kontexten geht man in der Regel nicht so ungehemmt aufeinander zu. So führt religiöse Praxis einerseits zu freiwilligem Engagement, anderseits hängt eine intensive religiöse Praxis unter Beachtung einer liberalen, offenen Ausrichtung der Religiosität mit erhöhtem sozialem Vertrauen zusammen.
Was bedeutet «soziales Vertrauen»?
Soziales Vertrauen meint ein Grundvertrauen in Menschen generell und damit die Überzeugung und Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Es ist für ein erspriessliches Funktionieren der Gesellschaft wichtig. Wer beispielsweise dem Gegenüber – auch Unbekannten – vertraut, muss nicht für jede Interaktion, jeden Handel oder jede Abmachung einen aufwändigen Vertrag abschliessen.
Wer die eigene Position absolut setzt, wertet damit häufig andere Positionen ab. So entstehen Vorurteile, die dem sozialen Vertrauen schaden.
Sie erwähnten, dass Religion bzw. Religiostät auch konfliktfördernd wirken kann, wann ist das der Fall?
Wenn die Religiosität der einzelnen exklusivistisch und fundamentalistisch ist. Wer die eigene Position absolut setzt, wertet damit häufig andere Positionen ab. So entstehen Vorurteile, die dem sozialen Vertrauen schaden. Der Zusammenhang zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen ist also ambivalent: Es gibt sowohl positive als auch negative Effekte. In meinem Buch spreche ich deshalb auch von einem «eigenwilligen» Zusammenhang.
Zu welchen Ergebnissen gelangten Sie in Ihrer Untersuchung zu spezifischen Konfessionen in der Schweiz?
Es gibt beispielsweise die These, dass reformierte Menschen mehr soziales Vertrauen haben als andere, gerade auch katholische Menschen. Dies ist aber nicht der Fall. Es hat vielmehr mit der demographischen und sozio-ökonomischen Zusammensetzung dieser beiden Gruppen zu tun. Was ich aber entdeckt habe: In historisch reformiert geprägten Kantonen ist das soziale Vertrauen im Allgemeinen tatsächlich höher als in historisch katholisch geprägten Kantonen. Der Unterschied ist zwar nicht riesig, aber ich war überrascht, dass es ihn dennoch gibt.
In der Schweizer Religionslandschaft sind neben verschiedenen christlichen Gemeinschaften, die jüdische und muslimische Glaubensgemeinschaft sowie weitere Religionen vertreten. Wie beeinflusst diese Diversität das Vertrauen in der Gesellschaft?
Ein Ansatz bisheriger Forschung besagt, dass zunehmende religiöse Vielfalt soziales Vertrauen im ersten Moment eher hemmt. Mit der Zeit, vermehrtem Kontakt und gegenseitigem Austausch sollte sich das aber legen und sogar umdrehen. Die religiöse Diversität nahm in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten ganz klar zu. Ob es dadurch zu einem Auf und Ab beim sozialen Vertrauen generell kam, kann meine Analyse nicht beantworten, da es sich um eine Querschnittstudie, das heisst, um eine Momentaufnahme handelt. Was ich aber belegen konnte ist, dass religiöse Vielfalt in der Schweiz gegenwärtig durchaus positiv mit sozialem Vertrauen zusammenhängt.
Ich konnte belegen, dass religiöse Vielfalt in der Schweiz gegenwärtig durchaus positiv mit sozialem Vertrauen zusammenhängt.
Sind Sie im Laufe Ihrer Forschung auf Resultate gestossen, die Sie überrascht haben?
Mich hat vor allem der Null-Effekt zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen überrascht. Sprich: Soziales Vertrauen entsteht nicht, wie häufig angenommen, durch freiwilliges Engagement per se. Vielmehr werden Vertrauen und Engagement durch dieselben Bedingungen beeinflusst, beispielsweise bestimmte Persönlichkeitsstrukturen, der Bildungsgrad, Armutsbetroffenheit, Migrationserfahrungen oder Religiosität.
Können Sie aus den Erkenntnissen Ihrer Studie konkrete Handlungsempfehlungen ableiten?
Erstens sollte man sich von der Ansicht verabschieden, dass Religion per se gute oder per se schlechte Wirkungen hat. Für das soziale Vertrauen ist es etwa viel wichtiger, wie Menschen religiös eingestellt sind. Wenn also nun religiöse Gemeinschaften soziales Vertrauen fördern wollen, müssten sie liberale Ansichten stärken und verabsolutierende Kräfte und Ansichten ablehnen. Zweitens sind Rituale – seien sie religiös oder nicht-religiös – wichtig, um komplexe Gesellschaften zu koordinieren und zu integrieren, weil sie informelle Kontakte auf Augenhöhe zwischen Menschen ermöglichen, die sich sonst nicht treffen würden. Seien es Feiertagsregelungen oder andere Regeln, Gesetze und Normen: Feiern, Feste und Rituale benötigen Zeit, Raum und Ressourcen. Und drittens: Wenn man gesellschaftspolitisch freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen in der Gesellschaft fördern will, sollte man in Bildung investieren und Armut bekämpfen. Bildung wirkt hier klar positiv, während Armut klar negativ wirkt.
Beim vorligenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Version. Zur Langfassung des Interviews
Öffentliche Buchpräsentation
Im Rahmen des Projekts «universum.», der Zwischennutzung des direkt neben dem Uni/PH-Gebäude gelegenen Inselis, wird Anastas Odermatt die Erkenntnisse aus seiner Doktorarbeit vorstellen und Inputs für Kirchen, Vereine und Verbände sowie die Politik geben. Der Anlass findet am 16. August um 18 Uhr statt.
Agenda-Eintrag zum Anlass
Mehr Infos zu «universum.»
Anastas Odermatt
Religion und Sozialkapital in der Schweiz. Zum eigenwilligen Zusammenhang zwischen Religiosität, Engagement und Vertrauen
Springer, Wiesbaden 2023